In der Geschichtsschreibung über die Reise der Dunera spielt er zurecht fast keine Rolle: Wolfgang Kittel war der Einzige, der zur allgemeinen Überraschung unterwegs freigelassen wurde. Beim Zwischenstopp in Kapstadt wurde er an Land gebracht und verschwand sodann aus dem Blickfeld der Internierten. Er ist also kein Dunera Boy. Gleichwohl scheint seine Biografie von Interesse. Denn sie steht durchaus beispielhaft für den Umgang mit der Nazizeit und deren Funktionsträgern in der Bundesrepublik Deutschland. Daher finden sich in diesem Text kritische Töne, die in der antifaschistischen Haltung der Betreiber von dunera.de wurzeln.
Peter Dehn, im Januar 2025.
Der Mann, der von Bord durfte
Wolfgang Hellmut Alexander Kittel[1] Standesamt Charlottenburg, Eintrag Nr. 1169 vom 15.11.1899. wurde am 11. November 1899 in Charlottenburg[2] Ein Vorort und selbständige Stadt bis zur Eingemeindung in Berlin 1920. geboren. Seine Eltern waren Miesko Kittel (1856 – 1923), ein Facharzt für gichtig-rheumatische Krankheiten, und dessen erste Ehefrau Auguste Juliane Alice Reschke (1869 – 1925). Nach der allgemeinen Schule besuchte Wolfgang Kittel eine Offiziersschule in Innsbruck[3] Zu weiteren biografischen Details vgl. Wikipedia über Kittel, abgerufen am 2.8.2023. und diente im 1. Weltkrieg bis zum 30. November 1918 in der Armee Österreichs[4] Entnazifizierungs-Akten Wolfgang Kittel, Lebenslauf, im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland, NW 1007 (SBE Hauptausschuss Landkreis Grevenbroich), Nr. 2149, Seite 46, über Archivportal abgerufen am 20.5.2024.. Im April 1919 schloss er sich den Freikorps an.
Als Söldner bei den Mördern von Luxemburg und Liebknecht
Einige dieser Söldnereinheiten waren wesentlich an der Niederschlagung der Versuche beteiligt, nach dem 1. Weltkrieg und dem Ende des Kaiserreiches basisdemokratische politische Strukturen zu etablieren. „Während der Kämpfe in Bayern diente ich kurze Zeit im Feld. Art. Reg. 21 und anschließend im Korps Graf Keller“, bestätigte Kittel seine Teilnahme an der Zerschlagung der im April 1919 gegründeten Münchner Räterepublik[5] Ebenda. Vgl. wikipedia über Freikorps und die Münchner Räterepublik, abgerufen am 10.12.2023..
Aus den Reihen der Freikorps wurden die Mörder von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg[6] Vgl. Wikipedia über die Ermordung von Liebknecht und Luxemburg, abgerufen 20.8.2023. rekrutiert. Kittel soll sich später in britischer Internierung mit seiner Zugehörigkeit zu dieser Mörderbande gebrüstet[7] Vgl. Francois Lafitte, „The Internment of Aliens“, London 1940, Seite 139. haben.
Die ultrarechts orientierten Freikorps kämpften zunächst im Baltikum gegen die Sowjetunion. Als ihren Hauptfeind betrachteten sie vor allem (und mit öffentlicher Unterstützung durch die SPD-geführte Reichsregierung) die linksgerichteten Arbeiter- und Soldatenräte, die nach der Abdankung der Kaiser-Regierung vielerorts in Deutschland die Macht übernommen hatten. Das hinderte die Freikorps nicht daran, schon 1920 – teils unter dem Hakenkreuz[8] Das Hakenkreuz wurde während des Kapp-Putsches von der sog. Brigade Ehrhardt verwendet. Vgl. Deutsches Historisches Museum LeMo, abgerufen am 25.5.2024. – gegen die Weimarer Republik ihrer vorherigen Auftraggeber zu putschen.
Aus den Söldnertruppen gingen zahlreiche führende Nazis hervor[9] Vgl. Wikipedia über Freikorps, abgerufen am 24.5.2024..
Studium, Berufliches
Nach verschiedenen Jobs studierte Kittel an der TH München und der TU Berlin, ohne einen Abschluss zu erwerben. Er heiratete 1922 Carola Mathilde Elfriede Remy. Die Ehe blieb kinderlos und wurde 1939 geschieden.

„Die etwa 400.000 Mitglieder der rund 120 namentlich nachweisbaren Freikorps hatten vor allem aber antirevolutionäre und antidemokratische Ansichten[10] Arnulf Scriba, "Freikorps", DHM, Lemo, abgerufen am 10.5.2024..“ Mit ihrer Hilfe entledigte sich die SPD-Regierung der linken Opposition, die u.a. in München, Berlin und Hamburg zum Barrikadenkampf gegen die Freikorps gezwungen wurde, um sich gegen die Monarchisten zu verteidigen. Wenige Tage nach Veröffentlichung des Hassaufrufs der Reichsregierung wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 von Freikorps-Offizieren[11] Wikipedia über Waldemar Pabst. Der maßgeblich an den Morden an Luxemburg und Liebknecht beteiligte Offizier wurde in der Bundesrepublik geschützt. Die Morde legitimierte das Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung am 8.2.1962 „standrechtliche Erschießung“, um „den Bürgerkrieg zu beenden und Deutschland vor dem Kommunismus“ zu retten. ermordet.

Oben: Mordaufruf an Berliner Litfaßsäulen im Dezember 1918 (Quelle unklar). Unten: Veröffentlichung der Regierung Ebert im Reichsanzeiger vom 9. Januar 1919 (gemeinfrei).
1924 bis 1928 war Kittel laut seinem Wikipedia-Eintrag in unbekannter Funktion für den Lohmann-Konzern[12] Wikipedia über W.A. Kittel aao. tätig, „der unter anderem die deutschen Fliegerschulen neu aufbaute“, verniedlicht die Deutsche Lufthansa[13] Die 1926 gegründete Lufthansa „erfüllte Aufgaben in der geheimen Wiederaufrüstung“, Historiker Lutz Budrass in „Adler und Kranich“, zit.n. J. Flottau „Die Lufthansa nähert sich ihrer Nazi-Geschichte“, Süddeutsche Zeitung 14.3.2016, abgerufen am 24.5.2024. die Machenschaften des Marine-Offiziers Lohmann in einer Würdigung Kittels[14] Lufthansa Pressedienst „Wolfgang A. Kittel 65 Jahre“, 5.11.1964.. Das schließt eine Verwicklung Kittels in die Aktivitäten des Konzerns mit der illegalen geheimen Wiederaufrüstung Deutschlands[15] Vgl. Wikipedia über die Lohmann-Affäre, abgerufen am 5.8.2023. nicht aus, die von der Reichsregierung mitfinanziert wurden. Lohmann unterhielt u.a. Beziehungen zu den Flugzeugbauern Junkers und Heinkel.
Interessant ist allerdings, dass Kittel bei seiner Entnazifizierung den Lohmann-Job verschwieg. Er erklärte nach dem Krieg, von 1925 bis zu deren Auflösung 1928 „Leiter des Berliner Versuchsfeldes für die Deutsche Huragan G.m.b.H.[16] Entnazifizierungs-Akten Kittel aao, Seite 46.“ gewesen zu sein. An der Firma waren laut Kittel u.a. die die Reederei Norddeutscher Lloyd[17] Vgl. Wikipedia über den Norddeutschen Lloyd und die Deschima, abgerufen am 10.9. 2024. (1926 Mitbegründerin der Deutsche Luft Hansa AG) und deren Werft-Dienstleister Deutsche Schiff- und Maschinenbau AG (Deschima) beteiligt. Kittels Entnazifizierungsakte enthält die Abschrift einer Vertretungs-Vollmacht[18] Ebenda, Seite 57., die der Geschäftsführer ihm erteilte. Einträge im Handelsregister (Verzeichnisse ab 1928 bis 1931) zeigen jedoch, dass diese erst 1927 gegründete Firma zumindest bis 1931[19] Geschäftsgegenstand der Deutschen Huragan GmbH waren Maschinen zum Schleifen und Zerkleinern. Vgl. HRB-Einträge 1928, 1931, via ZLB und Index of Trademarks des US Patentamtes 1927, Seite 65. in Berlin Bestand hatte.
Zeitgleich spielte Kittel erfolgreich Eishockey für den Berliner Schlittschuh Club (Deutscher Meister 1927) und die Nationalmannschaft (Bronze, Olympia 1928).
In Kolumbien
1928 ging Kittel nach Kolumbien, um für die Scadta[20] Wikipedia über die Scadta, abgerufen am 25.5.2024. (Sociedad Colombo Alemana de Transportes Aéreos) tätig zu werden. Die deutsch-kolumbianische Firma betrieb seit 1919 als weltweit zweites Unternehmen einen Linienflugverkehr. An deren Hauptstandort Baranquilla waren neben der Geschäftsführung ehemalige Kampfpiloten und Techniker aus Deutschland tätig. Flugzeuge von Junkers und Dornier kamen im Post- und Frachtverkehr zum Einsatz.
Kittel war dort durchgehend in verschiedenen leitenden Funktionen[21] Entnazifizierungs-Akten Kittel aao., Seite 61. tätig. Er war u.a. Leiter des Flughafens Girardot, ab 1930 Büroleiter in Colón (Panama). Anschließend recherchierte innerhalb Kolumbiens neue Geschäftsmöglichkeiten und war später Leiter der Verkehrsabteilung in Bogota und dann Büroleiter in Cartagena. Ab dem 1. März 1935 fungierte er als Betriebsinspektor und ab September 1936 als Leiter des technischen Sekretariats für die gesamte Scadta.
In ein politisch-wirtschaftliches Konzept, das Rüstungsverbot des Versailler Vertrags im Ausland zu umgehen, könnte die 1925 erfolgte Gründung einer Luftbild-Abteilung[22] Scadta.de, private Website über die Scadta von Berndt Wöhlbrandt, abgerufen am 24.5.2024. von Scadta passen. Kurz darauf wurden 1.800 Fotos im Grenzgebiet zwischen Kolumbien und Venezuela angefertigt. Die militärische Orientierung einer Erfassung solch eines Grenzgebietes scheint nahe zu liegen.
Ebenfalls mit Beigeschmack könnte eine Kooperation zwischen der Scadta, dem Lufthansa-Vorgänger Aero Lloyd und der Hamburger Firma Schlubach-Theimer von 1924 gesehen werden: Die gemeinsame Firma Kondor Syndicates sollte „den Absatz deutscher Flugzeuge[23] Ebenda. im Ausland fördern“.
Nicht zuletzt konnten Flugzeuge unter vergleichsweise extremen klimatischen Bedingungen im Flugalltag getestet werden. Piloten und Techniker wurden ausgebildet. Ab 1932 wurde mehrere Junkers F13 umgerüstet, um Militärpiloten für den Krieg Kolumbiens gegen Peru auszubilden. Dafür waren zeitweise zwei deutsche Piloten[24] Ebenda, Seite 1929 f. ans Militär abgestellt.


Eine Junkers W34 der Scadta am Rio Magdalena. Quelle: Scadta-Sammlung B. Wöhlbrandt.
Welche Rolle diese zwiespältige Kolumbien-Connection zusammen mit Herstellern, Reichswehr und deutscher Regierung beim Austricksen des Aufrüstungsverbotes spielte (siehe Lohmann-Affäre) und welchen Anteil Kittel daran gehabt haben mag, ist nicht überliefert.

Luftpostbrief von W. Kittel an Dr. Scheibe vom 7. Mai 1929, versandt mit „Servicio Postal Aero Scadta“ aus Medellin. Quelle: Scadta-Sammlung B. Wöhlbrandt.
Für die Lufthansa in Afrika
Nach zehn Jahren kehrte Wolfgang Kittel aus gesundheitlichen Gründen nach Nazideutschland zurück, „wo er sich zuerst mit der Sammlung von Dokumenten zu seiner nicht-jüdischen Vorfahrenschaft[25] Wikipedia über Kittel, aao. beschäftigte“. Ein solcher „Ariernachweis“ war Voraussetzung für den weiteren Auslandseinsatz im Staats- bzw. Firmenauftrag. Seine in Kolumbien ausgestellte NSDAP-Mitgliedschaft[26] Bundesarchiv, BArch_R_9361-IX_KARTEI_20340433,_Kittel,_Wolfgang. Nummer 3280718 vom 1. Juni 1933 reichte dazu nicht aus. Kittel „trat 1939 zur Lufthansa[27] Entnazifizierungs-Akten Kittel aao., Seite 46. über“, die ihn schon im August 1939 nach Bathurst[28] Heute Banjul, Hauptstadt der Republik Gambia. Vgl. Wikipedia über Gambia, abgerufen am 20.8.2023. schickte. In der Hafenstadt der damaligen britischen Kolonie West Gambia sollte er „die Lufthansa-Flugbasis[29] Lufthansa Pressedienst, aao. auf der geplanten Südamerika-Strecke von Bathurst nach Dakar verlegen“, den Standort also abwickeln. Der deutsche Konsul in West Gambia ernannte ihn zu seinem Urlaubsvertreter, wodurch Kittel einen diplomatischen Status bekam. Laut Kittel diente das jedoch nur dazu, „die Passangelegenheiten[30] Entnazifizierungs-Akten Kittel aao., Seite 47. des DLH-Personals wahrzunehmen“. Die Ernennung erreichte die Briten nicht schnell genug. Daher wurde Kittel bei Kriegsbeginn, wie alle Deutschen in den britischen Kolonien, sofort von den Briten interniert und nach England gebracht.
Später war Kittel einer der Gefangenen, die die Versenkung des Gefangenenschiffs Arandora Star am 2. Juli 1940 durch das deutsche U-Boot U-47 unter dem Befehl des „Seehelden“ Prien überlebten. Die Briten hinderte das nicht, ihn und 450 andere Überlebende schon acht Tage später auf das nächste Schiff zu schicken: Die Dunera legte am 10. Juli 1940 mit Ziel Australien in Liverpool ab.
Keine Meuterei und deren Quelle
„An Bord der Dunera kam es vor Kapstadt zur Meuterei[31] Wikipedia über Kittel, aao., die Kittel nach Mitteilung seiner zweiten Ehefrau Ingeborg Kittel auf Seiten der Mannschaft niederschlug.“ Das stimmt nicht; eine Meuterei ist weder offiziell dokumentiert noch durch Presseberichte, die Dunera-Erinnerungsliteratur oder historische Forschungen belegt. Auch scheint es nicht zu einem NSDAP-Miglied zu passen, in der Gefangenschaft mit dem Feind gegen die eigenen Kameraden zu paktieren.
Ein einziger Bericht deutet allerdings auf einen solchen Plan. Kittel verriet diesen Plan jedoch nicht, sondern sei selbst der Urheber einer Meuterei gewesen. Demnach erschien er überraschend auf einem der Decks bei den jüdischen Internierten und erklärte ihnen:
„Mein Name ist Kittel. Ich bin der Deckführer“, soll er sich dort vorgestellt haben. Wolle man die Fahrt überleben, käme man trotz aller Gegensätze „um ein gewisses Maß an Zusammenarbeit nicht herum. (…) Ein solches kopfloses Durcheinander wie neulich“, spielte Kittel auf die Panik nach der Torpedierung der Dunera an, „gefährdet uns alle und macht einen Ausbruch aus dem Stacheldraht unmöglich. Darum geht es mir. (…) Wir haben einen Ausbruchsplan.“
Einzige Fundstelle dafür ist der Erinnerungsroman „Das Gefangenenschiff“ von Dunera Boy Klaus Wilczynski[32] Klaus Wilczynski, „Das Gefangenenschiff“, Berlin 2001, Seite 104f. Dies ist die einzige bekannte Quelle, die beide Kittel betreffenden Ereignisse in dieser Weise überliefert.. Sein Buch erschien 2001. Der Wikipedia-Artikel wurde überhaupt erst 2012 angelegt. Die Bearbeitungs-Chronologie[33] Die Wikipedia-Biografie wurde am 11.11.2012 durch den Autoren Vicente2782 angelegt. Erst ab dem 22.12.2015 erscheint der Meuterei-Hinweis. Dieser wurde durch einen anonymen Autoren eingefügt, der sich auf Wikipedia ausschließlich mit den Biografien Kittel und seines Schwiegervaters Gerlach befasste. Ein Familienmitglied? zeigt, dass die Behauptung der Ehefrau erst 2015 und zusammen mit weiteren biografischen Details durch einen anonymen Autoren einfügt wurde. Wilczynskis Darstellung kann also keinesfalls eine Reaktion auf die fehlerhafte Kittel-Bio auf Wikipedia gewesen sein.
Laut Wilczynski habe Kittel folgenden Plan für die Meuterei[34] Ebenda, Seite 105f. entwickelt:
„Erster Schritt: Meine Leute brechen den Zaun nieder. Zweiter Schritt: Ihre Leute folgen nach. Gemeinsam überwältigen wir die Wachen. Dritte Phase: Meine Seeleute übernehmen die Boote und lassen sie herab.“ Seine Leute besäßen eine Axt und ein Seitengewehr. „Das bekommt der erste Posten zwischen die Rippen“. Dann habe man auch ein Gewehr „und das ist dann schon die halbe Hochzeit“.
Wenn das tatsächlich so war, ging Kittel dabei recht eigennützig im Sinne der rund 250 Deutschen seines Decks – vor allem Geschäftsleute und Seemänner der Handelsmarine, darunter viele Nazis – vor. Die 20 Rettungsboote der Dunera entsprachen der Zulassung[35] Vgl. Wikipedia über die Dunera, abgerufen am 20.8.2023. für 368 Passagiere plus Besatzung im Zivilverkehr und waren schon für die 1.167 Militärpersonen der Kriegs-Zulassung eher knapp bemessen. Für 2.500 Gefangene plus rund 300 Bewacher und Mannschaft reichten die Kapazitäten keinesfalls aus. So oder so wollten sich die jüdischen Gefangenen nicht auf eine Kumpanei mit Kittel einlassen.
Ein weiterer Aspekt scheint interessant: Zwischen Kittel und Lt. Col. Scott, dem Kommandanten der Wachen, gab es offenkundig mehr „Gemeinsamkeiten“ als die, mit denen sich Kittel laut Wilczynski bei den jüdischen Internierten profilieren wollte. Denn Scott machte keinen Hehl aus seinen Sympathien mit den Nazis und seinem Antisemitismus[36] Lt.Col. W.P. Scott, Kommandant der Wachsoldaten auf der HMT Dunera am 31.8.1940 an das australische Kommando für Kriegsgefangene. Zit. nach. Paul R. Bartrop/Gabrielle Eisen „The Dunera Affair“, Seite 53.. Am 31. August 1940 funkte er ein Statement an eine australische Dienststelle, dass das deutlich macht:
Über die Nazis an Bord teilt er mit: „Ihr Verhalten war beispielhaft, sie sind von feiner Art, ehrlich und aufrichtig und äußerst diszipliniert.“ Über die Juden führt er u.a. aus „Man kann sie nur als subversive Lügner, anspruchsvoll und arrogant bezeichnen … und ihnen ist weder in Wort noch in Taten zu trauen.“
Eine Verabschiedung im braunen Stil?
Am 8. August 1940 lief die Dunera im Hafen von Kapstadt (Südafrika) ein. Dort erlebten die Internierten Erstaunliches: Wolfgang Kittel durfte die Dunera verlassen. Dunera Boy Erich Lewinsky leitete seinen kurzen Text dazu mit der Bemerkung ein, es gebe Gerüchte, dass Kittel ein Nazi-Spion sein. Seine Verabschiedung beschreibt Lewinsky[37] „Cape Town Incident“ von Erich Lewinsky, Dunera News Nr. 26, Seite 17. Übersetzung pd. eher nüchtern:
„Auch wenn ich nichts von den Vorgängen auf dem Achterdeck mitbekommen habe, wo sich alles abspielte, kann ich mich lebhaft an die ‚Farewell-Zeremonie‘ erinnern, bei der einige der gefangenen Nazi-Seeleute den Hitler-Gruß zeigten und das Horst-Wessel-Lied sangen, als Kittel weggebracht wurde.“
Ähnlich distanziert schilderte Dunera Boy Georg Chodziesner das Ereignis:
„Das Schiff hat schon vom Kai losgemacht, als es ploetzlich wieder anlegt. und die Laufbrücke wieder auslegt. Der Fuehrer der deutschen Seeleute im Hinterschiff, Kittel, der Vertreter der deutschen Lufthansa und deutscher Vicekonsul in Südafrika sein soll, wird ploetzlich zum Kommandanten geholt. Nach kurzer Zeit kommt er zurueck, versammelt seine Leute um sich, haelt ihnen eine kurze Ansprache, in der er mitteilt, dass er sofort das Schiff zu verlassen hat. Er wird unter Bewachung abgefuehrt, naehere Gruende sind nicht zu erfahren.“
Der Kommunist Wilczynski schildert den Vorfall weitaus dramatischer[38] Wilczynski aao, Seite 162.:
„Er hält eine kurze Ansprache, in der viel von Sieg und Durchhalten die Rede ist, reißt am Ende die rechte Hand zum Nazigruß hoch und ruft ‚Heil Hitler, Kameraden!‘ Ein reichlich schwaches ‚Heil Hitler‘ kommt als Antwort auf das ‚deutsche‘ Lebewohl zurück. Zornig reißt Kittel den Arm ein zweites Mal hoch: ‚Ich habe gesagt, Heil Hitler, Kameraden!‘ Das wirkt. An dem donnernden Heil, dass ihm entgegenschallt, gibt es nichts mehr auszusetzen.“
Dabei greift Wilczynski möglicherweise einen Satz von Francois Lafitte auf. Dieser hatte die Feststellung, im britischen Lager Warner’s Camp bei Seaton „waren Gestapomänner und Nazimörder“ mit der Bemerkung verbunden, Kittel und ein anderer hätten sich dort gebrüstet, unter den Mördern von Rosa Luxemburg[39] Vgl. Lafitte aao. gewesen zu sein.
Der Umstand, dass so eine Nazi-Versammlung an Bord eines britischen Gefangenen-Schiffs möglich gewesen sein könnte, scheint auf die o.g. Sympathien des Kommandanten der Wachmannschaften Scott mit den Nazis zu deuten.
Die im Grundzug, wenn auch nicht in Details, übereinstimmenden Berichte über seine Verabschiedung sprechen zudem gegen die Behauptung, Kittel hätte ander Seite der Wachen gegen die Gefangenen gehandelt.
Das deutsche Auswärtige Amt bestätigt den tatsächlichen Grund[40] Auswärtige Amt an Peter Dehn, email vom 2.1.2023. für Kittels Wechsel von der Dunera über Kapstadt nach England:
„Wolfgang Kittel hat dem diplomatischen oder konsularischen Dienst nicht tatsächlich angehört. Das Amt des Wahlkonsuls in Bathurst im damaligen West-Gambia wurde von Ernst Klaube, dem dortigen Vertreter der Lufthansa, ausgeübt. Als dieser im Frühjahr 1939 nach mehrjährigem Aufenthalt in Afrika ankündigte, im Spätsommer einen fünfmonatigen Urlaub anzutreten, wurde der bei der Lufthansa beschäftigte Wolfgang Kittel dazu ausersehen, Herrn Klaube in dieser Zeit in seinen beiden Funktionen zu vertreten.“
Das sei den Briten im Juli 1939 mitgeteilt worden. Der Kriegsbeginn verschob die notwendige Zustimmung der britischen Regierung, so dass Kittel zunächst wie ein „gewöhnlicher Ausländer“ behandelt wurde. Von einer Belohnung für die Niederschlagung einer Meuterei oder irgendeiner Kooperation mit den Wachmannschaften ist keine Rede. Es deutet sich eher an, dass die Briten, nachdem sie seinen Status als Konsularvertreter festgestellt hatten, Kittel für einen Diplomaten-Austausch benutzen wollten.
Von Kapstadt zur Isle of Man
In Kapstadt wurde Kittel nach eigenem Bekunden zunächst im Gefängnis Wynberg untergebracht. Dann konnte er sich unbewacht „auf Ehrenwort“ und 1. Klasse per Schiff nach England begeben. Nach knapp fünf Wochen befand er sich in der Oratory Central School in London. Er „habe eine Art Logenplatz für die Nachtangriffe“, schrieb er von dort[41] Abschrift im Archiv des Auswärtigen Amtes, RAV 26-1_4102. am 14. September 1940 an eine Mitarbeiterin der Nazi-Botschaft in Paris. Er beschwerte sich über den Mangel an Kleidung und Geld und lobte die Versorgung mit Zigaretten. Die Akte des Auswärtigen Amtes zitiert ein Telegramm vom 12. September 1940 über den Besuch von Schweizer Diplomaten[42] Abschrift im Archiv des Auswärtigen Amtes aao. bei Kittel: Er „hat sich gut von der Tortur erholt, die er durchgemacht hat“. Nun sei er in London mit einer Gruppe des deutschen Konsulats in Reykjavik inhaftiert und erwarte den Austausch.
Es ist nicht genau bekannt, wann Kittel und die anderen auf die Isle of Man gebracht wurden. Jüdische Flüchtlinge und Nazigegner wie Heinz Dehn wurden dort im Mai und Juni 1940 aus mehreren Lagern in Wohnungen untergebracht, die bis auf Strohsäcke leer waren. Im Gegensatz dazu genoss Kittel als Diplomat[43] Vgl. wikipedia über Kittel aao. ab Dezember 1940 einen vergleichsweise großen Luxus. Sein Quartier war das Dunluce House[44] Manx National Heritage an Peter Dehn am 17.12.2021. am Südrand von Ramsey. In der Villa mit eigenem Badestrand lebte eine kleine Gruppe Nazi-Promis. Zwei dieser Personen werden Kittels Lebensweg nachhaltig prägen.
Freundschaften in der Internierung 1: Werner Gerlach
Werner Gerlach[45] Wikipedia über Werner Gerlach, abgerufen am 10.8.2023. (1891 – 1963) war Arzt und Pathologe und NDSAP-Mitglied Nr. 1.780.666 seit dem 1.7.1933. Seit 1929 lehrte er an der Uni Basel, wo er 1936 wegen „disziplinarwidriger nationalsozialistischer Betätigung“ entlassen wurde. Die Aufhebung der Entlassung durch ein Gericht geschah jedoch „zu Unrecht, gehörte Gerlach doch nach eigener – späterer – Aussage zu dem ‚Stoßtrupp‘, der die ‚Einverleibung der deutschen Schweiz[46] Biografie Werner Gerlach der Martin-Luther-Universität Halle, abgerufen am 15.6.2024. in das Reich‘ vorbereitete“.
Danach wurde er als Professor an die „nationalsozialistische Musteruniversität[47] Wikipedia über die Uni Jena, abgerufen am 20.8.2023.“ Jena berufen, wo er ab April 1937 einen Kollegen ersetzte, der wegen seiner jüdischen Frau fliehen musste. 1937 wurde er zum SS-Hauptsturmführer ehrenhalber in Himmlers persönlichem Stab (!) ernannt. Nach den Pogromen vom November 1938 soll er den Jenaer Gerichtsmediziner Ernst Giese[48] Wikipedia über Ernst Giese, abgerufen am 10.8.2023 und Werner Gerlach aao. denunziert haben, weil dieser Juden behandelt hätte. 1939 erhoben die Nazis Gerlach zum Diplomaten und Generalkonsul in Island. Dort wurde er mit seiner Frau und zwei Töchtern von den Briten nach Kriegsbeginn interniert, zunächst nach London und im Herbst 1940 zum Dunluce House auf der Isle of Man gebracht. Am 24. September 1941 wurde die Familie in Lissabon gegen den britischen Botschafter in Belgien Sir Lancelot Oliphant ausgetauscht.
Auf den Austausch der Familie Gerlach von 1941 verweist u.a. die Notiz einer lokalen Tageszeitung[49] Ramsey Courier vom 26.9.1941, im Archiv von Manx National Heritage. der Isle of Man: „Einige offizielle deutsche Diplomaten einschließlich eines im Dunluce, Ramsey, untergebrachten, sind in einen Austausch gegen britische Diplomaten in Feindeshand einbezogen. Die Gruppe hat am Mittwoch die Insel verlassen; ihr Gepäck ist mit ‚Berlin‘ etikettiert.“

Das vergleichsweise luxuriöse Quartier im Dunluce House teilte Kittel mit sechs Personen. Quelle: Manx Museum.
Zum Dank für die großzügige Unterbringung lieferte Gerlach den Nazis eine großdeutsche Hasspropaganda-Show[50] „Hakenkreuzbanner“, Zeitung der NSDAP Mannheim, am 11.11.1941, Deutsches Digitale Bibliothek, abgerufen am 20.8.2023.: Großbritannien habe sich „ohne alle Bedenken von jedem Völkerrecht losgesagt“. „Die britische Barbarei“ habe den Diplomaten „ins Gefängnis gesteckt, wie selbst Neger, die das Gesandtenrecht anerkennen, ihn nicht zu behandeln gewagt haben würden“, hetzte die rassisitische gleichgeschaltete[51] U.a. „Westfälische Zeitung“ vom 11.11.1941, Deutsche Digitale Bibliothek, abgerufen am 20.8.2023. Nazipresse.
Heimgekehrt ins Reich blieb Gerlach weiter in der Nazi-Diplomatie, u.a. in Paris. Er wurde 1942 zum SS-Brigadeführer (entsprach dem militärischen Generalsrang) ernannt. Nach dem Krieg wurde er bis 1948 von den USA interniert und u.a. im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess vernommen. 1949 gründete er in Kempten ein privates Pathologisches Institut[52] Wikipedia über Gerlach aao..
Freundschaften in der Internierung 2: Werner T. Schaurte
Ein weiterer Bewohner von Dunluce House war Werner T. Schaurte[53] Wikipedia über Werner T. Schaurte, abgerufen am 17.5.2024. (1893 – 1978), der seit 1917 die Metallwarenfabrik Bauer & Schaurte[54] Die Firma in Neuss, NRW, wurde bekannt durch die Innensechskantschrauben Bauer und Schaurte – kurz Inbus. führte. Interniert wurden er und sein Begleiter Graf Lothar von Hoensbroech in Kanada. Von dort kommend trafen sie spätestens im Dezember 1940 im Dunluce House ein.
Schon am 1. Mai 1933 hatte er vor der Belegschaft seiner Firma eine Treueerklärung an Hitler abgegeben und begrüßt, „daß 115 Mann der Belegschaft sich zu einem SA-Sturm zusammengeschlossen haben“. Schaurte war NSDAP- und SA-Mitglied, mit Hermann Göring befreundet und hatte Funktionen in Industrieverbänden. Der kriegswichtige Betrieb profitierte von rund 2.000 Zwangsarbeiterinnen[55] „Verbrechen der Wirtschaft am Beispiel der Firma Bauer & Schaurte (Neuss)“, Rechercheure der VVN NRW, abgerufen am 20.8.2023. in drei Lagern allein am Hauptstandort Neuss und 10.000 Arbeitern in annektierten Gebieten.
Bei der Entnazifizierung wurde Schaurte als „Mitläufer[56] Wikipedia über Schaurte, aao.“ eingestuft.
Beziehungen aus der Internierung
Dass Wolfgang Kittel während des Krieges und selbst aus der Internierung heraus im Sinne der Nazis – übrigens in Richtung Australien – aktiv war, belegt ein britisches Geheimtelegramm[57] National Achives of Australia, NAA_ItemNumber781825, Seiten 14/15. vom April 1941: „Ein Brief an Wolfgang Kittel, interniert auf der Isle of Man, abgefangen von der Zensur, zeigt, dass er aus Deutschland eine Anzahl Adressen von Personen in Australien erhalten hat.“ Diesem Telegramm aus London ist der Vermerk vorangestellt, der abgefangene Brief sei an Kittel gerichtet, der sich selbst als Nazi bezeichne.
Wolfgang Kittel wurde am 25. Mai 1943 über Portugal ausgetauscht und traf bald in Berlin ein. Im September reiste er nach Paris an den Dienstort von Gerlach. Dort heiratete er in zweiter Ehe dessen jüngere Tochter Ingeborg. Die Lufthansa hatte ihm bis dahin jährlich 2.500 Reichsmark[58] Entnazifizierungs-Akte Kittel, Seite 11. ausgezahlt, obwohl er interniert war.
Zurückgekehrt nach Deutschland wurde er von seinem Internierungs-Freund Werner Schaurte angestellt. 1945 avancierte er zum stellvertretenden „Betriebsführer“ bei Bauer & Schauerte. Er war u.a. verantwortlich für die Sicherung des Maschinenparks vor Angriffen, um sie für die Zeit nach der militärischen Niederlage des Nazireiches zu erhalten. Das sei „ein passiver Widerstand gegen das Rüstungsministerium“ gewesen, behauptete Kittel[59] Ebenda, Lebenslauf vom 15.4.1947, Seite 66. später.

Aus Deutschland bekommt Kittel Adressen von Ansprechpartnern in Australien. Quelle: Nationalarchvi Australien, NAA_781825.

Die britische Karteikarte bermerkt: „Repatriiert am 25. Mai 1943“. Quelle: ancestry.de.
„Ich bin kein Extremist“
In seiner Entnazifizierungsakte stellt er seine NSDAP-Mitgliedschaft als Fehltritt dar. „Ich bedauere es, im Jahre 1933 die politische Kurzsichtigkeit besessen zu haben, die NSDAP für eine politische Patentlösung zu halten und ihr beigetreten zu sein, weil ich kein Extremist[60] Ebenda, Seite 67. bin.“ In Kolumbien habe er sich vorwiegend von Urlaubern über das Geschehen in und um Deutschland informieren lassen. „Sie waren die unbewussten Träger der Propaganda. (…) Wie weit gerade die Schiffsatmosphaere durch einwandfreie Parteigenossen im Bedienungspersonal ‚gefoerdert‘ wurde, kam mir erst später zu Bewusstsein.“ Nicht zuletzt sei die NSDAP eine Plattform gewesen, um den Zusammenhalt der deutschen Kolonie gegenüber dem Ausland zu demonstrieren.
Im Juni 1945 wurde er beschuldigt, eine Mitarbeiterin der Firma wegen „Defätismus“ an die Gestapo verraten zu haben. Er wurde verhaftet und war bis November 1946 war in einem Lager in Recklinghausen gefangen. Dort war er zeitweise als Dolmetscher und Leiter der Poststelle tätig. Im Zuge seiner Entnazifizierung bedauerte er, die Beschuldung nicht selbst entkräften zu können; seine Privatakten seien in der Firma entgegen seiner Anweisung vernichtet worden. Andere an dem Vorgang namhaft gemachte nazilastige Personen bestätigten sämtlich, Kittel habe mit dem Vorfall ebenso wenig zu tun gehabt, wie sie selbst.
Nachdem Wolfgang Kittel sich so als unwissend und von Dritten manipuliert darstellte, wurde er als Mitläufer entnazifiziert.
Wieder bei der Luftfahrt
Nach der Entlassung arbeitete er von 1945 bis 1947 für eine Metallfirma. Als die Vorbereitungen für eine Neugründung der Deutschen Lufthansa begannen, stieg er sofort ein. In der 1953 gegründeten Vorläuferfirma „AG für Luftverkehrsbedarf“ leitete er den Materialsektor. Mit Beginn des Linienflugbetriebes der Lufthansa AG leitete er ab Mai 1955 von New York aus den Ticketverkauf für Nord- und Mittelamerika. 1959 wurde er als Vorstandsmitglied verantwortlich für Verkauf, PR und Air Union-Verhandlungen des Konzerns. 1964 ging er in den Ruhestand.

Wolfgang Kittel. Foto: Lufthansa Group.
Wolfgang Hellmut Alexander Kittel verstarb am 27. Februar 1967. Er hinterließ seine Frau Ingeborg und zwei Söhne.
Nachtrag: Bundesverdienstkreuz mit Stern
Das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern wurde Wolfgang Kittel am 22. Januar 1965 verliehen. Begründet wurde das öffentlich mit seinem Anteil am Wiederaufbau der Lufthansa und ihrer Weiterentwicklung.
Interessant sind die Dokumente, die diese Auszeichnung begleiteten und begründeten. Denn sie stehen durchaus prototypisch für den Umgang mit ehemaligen Nazis[61] Zu erinnern ist u.a. an Hans Globke, Mitverfasser der Nazi-Rassengesetze und Chef von Adenauers Bundeskanzleramt, oder den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der als Marinerichter in der Gefangenschaft Urteile fällte. Beide wurden mit Bundesverdienstkreuzen ausgezeichnet., die in der Bundesrepublik Deutschland in Spitzenpositionen[62] Kurzfassung der Akte Rosenburg. 2016 veröffentlicht vom Bundesjustizministerium, abgerufen am 10.8.2023. lanciert und von denen viele mit höchsten Orden gewürdigt wurden.
Kittels NSDAP-Mitgliedschaft war der Staatskanzlei NRW bekannt, von wo der Verleihungsvorschlag kam, störte aber wenig. Man räumte ihm quasi „mildernde Umstände“ ein, obwohl nicht bekannt[63] NSDAP-interner Briefwechsel vom 7. und 15.9.1936, vgl. Archiv des Bundespräsidialamtes im Bundesarchiv. B 122_38621_Kittel. sei, warum er 1936 die „Aberkennung der Fähigkeit zur Bekleidung eines Parteiamtes auf die Dauer von 2 Jahren“ erlitten habe. Diese Sanktion betraf den Zeitraum bis spätestens Mitte 1938 und hinderte Kittel also nicht, den Auslandsauftrag für die Lufthansa zu bekommen und zum Diplomaten Nazideutschlands berufen zu werden. Laut einer Selbstauskunft zur Entnazifizierung sei er bestraft worden, weil er sich mit anderen Führungspersonen in einem Brief gegen die Abberufung[64] Entnazifizierung-Akte Kittel aao., Seite 48. des Scadta-Chefs Kühl[65] Laut Wöhlbrandt aao (1934f) hatten sich von den Nazis geschickte Piloten beim Luftwaffenchef Göring über Kühl beschwert. ausgesprochen habe. Darüber hätten sich deustche Piloten beim Luftwaffenchef Göring beschwert. Das scheint zu bestätigen, dass es sich um deutsche Militärangehörige handelte, die entgegen dem Versailler Vertrag im Ausland ausgebildet wurden. Und die Naziregierung hatte offensichtlich erheblichen Einfluss auf die Tätigkeit der Scadta.
Die Verdienstkreuz-Verantwortlichen folgerten, es „muss wohl angenommen werden, dass der Beschluss des Parteigerichts insoweit im Wesentlichen vorbeugende Bedeutung[66] Archiv des Bundespräsidialamtes AZ B 122_38621_Kittel. hatte“. So beantwortete die Staatskanzlei Düsseldorf eine entsprechende Rückfrage des Bundespräsidialamtes. Schützt behördliches Unwissen (oder: nichts wissen zu wollen?) vor Strafe?
Auch Kittels Beteiligung an der Gründung und seine Tätigkeit im Vorstand des 1959 als verfassungsfeindlich verbotenen „Sozialen Hilfswerkes für Zivilinternierte e.V.“ war nicht hinderlich. Der Verein sei 1952 offiziell gegründet worden, um Ex-Internierte und deren Hinterbliebene zu unterstützen. Kittel habe die „Mitgliedschaft im Vorstand etwa zu der Zeit aufgegeben“, als der Verband seine „politische Zielrichtung“ in „eine rechtsradikale politische Richtung“ wechselte.
Daher dürfe „unterstellt (Hervorhebung pd) werden, dass er sich von dieser Entwicklung des Hilfswerks distanziert“ und „nicht mehr mitgearbeitet hat“. Freilich räumte die NRW-Staatskanzlei ein, dass der Gründungsvorstand „ausnahmslos ehemalige Mitglieder der NSDAP“ umfasste. Weil es aber keine prominenten Nazis waren, sei die rechtsradikale Absicht[67] NRW-Staatskanzlei am 8.1.1965, Archiv des Bundespräsidialamt aao. der Vereinsgründung nicht erkennbar gewesen. Das schrieb Dr. Julius Seeger (CDU), Chef der NRW-Staatskanzlei, unter Verweis auf den NRW-Verfassungsschutz, am 25. November 1964 an das Bundespräsidialamt.
Intern begründet[68] Archiv des Bundespräsidialamtes aao., Blatt 237. wurde die Verleihung übrigens auch damit, dass auch der Vorstandsvorsitzende Bongers des damaligen Staatsbetriebs[69] Die Lufthansa AG war bis 1963 zu fast 100 Prozent im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland und wurde erst 1997 vollständig privatisiert. Vlg. Wikipedia über die Lufthansa AG, abgerufen am 20.8.2023. Lufthansa den Orden hatte und dass Kittels „Stellung (ohne Rücksicht auf die Bezahlung) der eines Ministerialdirektors entspricht.“ Bestanden die „Verdienste“ Kittels also quasi „kraft Nomenklatura“?
Kommentar
Von der Kontinuität, mit der Nazis in der Bundesrepublik zu Posten und Orden kamen, zeugt u.a. das prominenteste Beispiel: Hans Globke[70] Wikipedia über Hans Globke, den „Mann hinter Adenauer“, abgerufen am 1.8.2024. (1898-1973) war Mitverfasser der Rassengesetze und verantwortlich für die namentliche Kennzeichnung von Juden durch zusätzliche Vornamen. Ihm gelang der bruchlose Sprung an die Spitze von Adenauers Bundeskanzleramt. Dort hatte er maßgeblichen Einfluß auf die CDU und die BRD-Politik. 1963 bekam er das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
2016 wurde die Studie „Die Akte Rosenburg[71] Christoph Safferling, Manfred Görtemaker, „Die Akte Rosenburg – Das BMJ und die NS-Zeit“, 600 Seiten. Die Buchfassung (ISBN 978-3-406-69768-5) erschien 2016 im Verlag C.H. Beck. Eine Kurzfassung von 48 Seiten kann auf der Website des Ministeriums heruntergeladen werden.“ veröffentlicht. Darin stellten Historiker im Auftrag des Bundesjustizministeriums fest, dass bis 1973 dort 170 in Leitungspositionen tätige Juristen ehemalige Nazis waren. In einer im April 2024 erschienenen Kurzversion kommentiert der seinerzeitige Justizminister Marco Buschmann (FDP): „Diese Zahlen helfen zu begreifen, warum die Strafverfolgung der NS-Verbrechen so lange hintertrieben, das Leid der Opfer so lange ignoriert und viele Opfergruppen – etwa Homosexuelle oder Sinti und Roma – in der Bundesrepublik erneut diskriminiert wurden“. Das sei „bestürzend“.
Zur Verantwortung der politischen Führung der Bundesrepublik für die Platzierung von Ex-Nazis in Führungspositionen äußert er sich nicht. Das darf man wohl als „bestürzend“ bezeichnen.
Peter Dehn
Übrigens: Österreich[72] Vgl. Süddeutsche Zeitung online, Berichte vom 28.4.2024 und 29.12.2023 (walled garden). erkannte 2023 Hans Globke seinen Verdienstorden am Bande ab. Die Schweiz[73] Vgl. Globke-Eintrag bei Lebendiges Museum Online, abgerufen am 1.8.2024. verweigerte ihm 1963 das Wohnrecht. Das Oberste DDR-Gericht[74] Das Urteil findet sich im Wortlaut auf der Plattform fragdenstaat.de (download), abgerufen am 8.9.2024. verurteilte ihn 1963 zu lebenslanger Haft.
Hinweis: Schreibweisen – auch fehlerhafte – wurden unverändert aus den Originalen übernommen.
Fußnoten
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- [1]↑Standesamt Charlottenburg, Eintrag Nr. 1169 vom 15.11.1899.
- [2]↑Ein Vorort und selbständige Stadt bis zur Eingemeindung in Berlin 1920.
- [3]↑Zu weiteren biografischen Details vgl. Wikipedia über Kittel, abgerufen am 2.8.2023.
- [4]↑Entnazifizierungs-Akten Wolfgang Kittel, Lebenslauf, im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland, NW 1007 (SBE Hauptausschuss Landkreis Grevenbroich), Nr. 2149, Seite 46, über Archivportal abgerufen am 20.5.2024.
- [5]↑Ebenda. Vgl. wikipedia über Freikorps und die Münchner Räterepublik, abgerufen am 10.12.2023.
- [6]↑Vgl. Wikipedia über die Ermordung von Liebknecht und Luxemburg, abgerufen 20.8.2023.
- [7]↑Vgl. Francois Lafitte, „The Internment of Aliens“, London 1940, Seite 139.
- [8]↑Das Hakenkreuz wurde während des Kapp-Putsches von der sog. Brigade Ehrhardt verwendet. Vgl. Deutsches Historisches Museum LeMo, abgerufen am 25.5.2024.
- [9]↑Vgl. Wikipedia über Freikorps, abgerufen am 24.5.2024.
- [10]↑Arnulf Scriba, "Freikorps", DHM, Lemo, abgerufen am 10.5.2024.
- [11]↑Wikipedia über Waldemar Pabst. Der maßgeblich an den Morden an Luxemburg und Liebknecht beteiligte Offizier wurde in der Bundesrepublik geschützt. Die Morde legitimierte das Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung am 8.2.1962 „standrechtliche Erschießung“, um „den Bürgerkrieg zu beenden und Deutschland vor dem Kommunismus“ zu retten.
- [12]↑Wikipedia über W.A. Kittel aao.
- [13]↑Die 1926 gegründete Lufthansa „erfüllte Aufgaben in der geheimen Wiederaufrüstung“, Historiker Lutz Budrass in „Adler und Kranich“, zit.n. J. Flottau „Die Lufthansa nähert sich ihrer Nazi-Geschichte“, Süddeutsche Zeitung 14.3.2016, abgerufen am 24.5.2024.
- [14]↑Lufthansa Pressedienst „Wolfgang A. Kittel 65 Jahre“, 5.11.1964.
- [15]↑Vgl. Wikipedia über die Lohmann-Affäre, abgerufen am 5.8.2023.
- [16]↑Entnazifizierungs-Akten Kittel aao, Seite 46.
- [17]↑Vgl. Wikipedia über den Norddeutschen Lloyd und die Deschima, abgerufen am 10.9. 2024.
- [18]↑Ebenda, Seite 57.
- [19]↑Geschäftsgegenstand der Deutschen Huragan GmbH waren Maschinen zum Schleifen und Zerkleinern. Vgl. HRB-Einträge 1928, 1931, via ZLB und Index of Trademarks des US Patentamtes 1927, Seite 65.
- [20]↑Wikipedia über die Scadta, abgerufen am 25.5.2024.
- [21]↑Entnazifizierungs-Akten Kittel aao., Seite 61.
- [22]↑Scadta.de, private Website über die Scadta von Berndt Wöhlbrandt, abgerufen am 24.5.2024.
- [23]↑Ebenda.
- [24]↑Ebenda, Seite 1929 f.
- [25]↑Wikipedia über Kittel, aao.
- [26]↑Bundesarchiv, BArch_R_9361-IX_KARTEI_20340433,_Kittel,_Wolfgang.
- [27]↑Entnazifizierungs-Akten Kittel aao., Seite 46.
- [28]↑Heute Banjul, Hauptstadt der Republik Gambia. Vgl. Wikipedia über Gambia, abgerufen am 20.8.2023.
- [29]↑Lufthansa Pressedienst, aao.
- [30]↑Entnazifizierungs-Akten Kittel aao., Seite 47.
- [31]↑Wikipedia über Kittel, aao.
- [32]↑Klaus Wilczynski, „Das Gefangenenschiff“, Berlin 2001, Seite 104f. Dies ist die einzige bekannte Quelle, die beide Kittel betreffenden Ereignisse in dieser Weise überliefert.
- [33]↑Die Wikipedia-Biografie wurde am 11.11.2012 durch den Autoren Vicente2782 angelegt. Erst ab dem 22.12.2015 erscheint der Meuterei-Hinweis. Dieser wurde durch einen anonymen Autoren eingefügt, der sich auf Wikipedia ausschließlich mit den Biografien Kittel und seines Schwiegervaters Gerlach befasste. Ein Familienmitglied?
- [34]↑Ebenda, Seite 105f.
- [35]↑Vgl. Wikipedia über die Dunera, abgerufen am 20.8.2023.
- [36]↑Lt.Col. W.P. Scott, Kommandant der Wachsoldaten auf der HMT Dunera am 31.8.1940 an das australische Kommando für Kriegsgefangene. Zit. nach. Paul R. Bartrop/Gabrielle Eisen „The Dunera Affair“, Seite 53.
- [37]↑„Cape Town Incident“ von Erich Lewinsky, Dunera News Nr. 26, Seite 17. Übersetzung pd.
- [38]↑Wilczynski aao, Seite 162.
- [39]↑Vgl. Lafitte aao.
- [40]↑Auswärtige Amt an Peter Dehn, email vom 2.1.2023.
- [41]↑Abschrift im Archiv des Auswärtigen Amtes, RAV 26-1_4102.
- [42]↑Abschrift im Archiv des Auswärtigen Amtes aao.
- [43]↑Vgl. wikipedia über Kittel aao.
- [44]↑Manx National Heritage an Peter Dehn am 17.12.2021.
- [45]↑Wikipedia über Werner Gerlach, abgerufen am 10.8.2023.
- [46]↑Biografie Werner Gerlach der Martin-Luther-Universität Halle, abgerufen am 15.6.2024.
- [47]↑Wikipedia über die Uni Jena, abgerufen am 20.8.2023.
- [48]↑Wikipedia über Ernst Giese, abgerufen am 10.8.2023 und Werner Gerlach aao.
- [49]↑Ramsey Courier vom 26.9.1941, im Archiv von Manx National Heritage.
- [50]↑„Hakenkreuzbanner“, Zeitung der NSDAP Mannheim, am 11.11.1941, Deutsches Digitale Bibliothek, abgerufen am 20.8.2023.
- [51]↑U.a. „Westfälische Zeitung“ vom 11.11.1941, Deutsche Digitale Bibliothek, abgerufen am 20.8.2023.
- [52]↑Wikipedia über Gerlach aao.
- [53]↑Wikipedia über Werner T. Schaurte, abgerufen am 17.5.2024.
- [54]↑Die Firma in Neuss, NRW, wurde bekannt durch die Innensechskantschrauben Bauer und Schaurte – kurz Inbus.
- [55]↑„Verbrechen der Wirtschaft am Beispiel der Firma Bauer & Schaurte (Neuss)“, Rechercheure der VVN NRW, abgerufen am 20.8.2023.
- [56]↑Wikipedia über Schaurte, aao.
- [57]↑National Achives of Australia, NAA_ItemNumber781825, Seiten 14/15.
- [58]↑Entnazifizierungs-Akte Kittel, Seite 11.
- [59]↑Ebenda, Lebenslauf vom 15.4.1947, Seite 66.
- [60]↑Ebenda, Seite 67.
- [61]↑Zu erinnern ist u.a. an Hans Globke, Mitverfasser der Nazi-Rassengesetze und Chef von Adenauers Bundeskanzleramt, oder den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der als Marinerichter in der Gefangenschaft Urteile fällte. Beide wurden mit Bundesverdienstkreuzen ausgezeichnet.
- [62]↑Kurzfassung der Akte Rosenburg. 2016 veröffentlicht vom Bundesjustizministerium, abgerufen am 10.8.2023.
- [63]↑NSDAP-interner Briefwechsel vom 7. und 15.9.1936, vgl. Archiv des Bundespräsidialamtes im Bundesarchiv. B 122_38621_Kittel.
- [64]↑Entnazifizierung-Akte Kittel aao., Seite 48.
- [65]↑Laut Wöhlbrandt aao (1934f) hatten sich von den Nazis geschickte Piloten beim Luftwaffenchef Göring über Kühl beschwert.
- [66]↑Archiv des Bundespräsidialamtes AZ B 122_38621_Kittel.
- [67]↑NRW-Staatskanzlei am 8.1.1965, Archiv des Bundespräsidialamt aao.
- [68]↑Archiv des Bundespräsidialamtes aao., Blatt 237.
- [69]↑Die Lufthansa AG war bis 1963 zu fast 100 Prozent im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland und wurde erst 1997 vollständig privatisiert. Vlg. Wikipedia über die Lufthansa AG, abgerufen am 20.8.2023.
- [70]↑Wikipedia über Hans Globke, den „Mann hinter Adenauer“, abgerufen am 1.8.2024.
- [71]↑Christoph Safferling, Manfred Görtemaker, „Die Akte Rosenburg – Das BMJ und die NS-Zeit“, 600 Seiten. Die Buchfassung (ISBN 978-3-406-69768-5) erschien 2016 im Verlag C.H. Beck. Eine Kurzfassung von 48 Seiten kann auf der Website des Ministeriums heruntergeladen werden.
- [72]↑Vgl. Süddeutsche Zeitung online, Berichte vom 28.4.2024 und 29.12.2023 (walled garden).
- [73]↑Vgl. Globke-Eintrag bei Lebendiges Museum Online, abgerufen am 1.8.2024.
- [74]↑Das Urteil findet sich im Wortlaut auf der Plattform fragdenstaat.de (download), abgerufen am 8.9.2024.