Beim Lesen in „Dunera Lives – A Visual History[1] Inglis, Spark u.a. „Dunera Lives. A Visual History“, Melbourne 2018, S. 128.“ und später bei den Recherchen zum Kitchener Camp und zu Dr. Ernst Wasser, bin ich zufällig auf Dunera-Boy Dr. Hans Frankenstein gestoßen. Er war einer der rund 800 jüdischen Kinderärzte[2] Eduard Seidler, Vorwort zum Buch „Jüdische Kinderärzte 1933 – 1945. Entrechtet – geflohen -ermordet“, Freiburg 2014, abgerufen am 23.4.2023., die von den Faschisten erst ihres Berufs und der Existenzgrundlage ihrer Familien beraubt und dann aus ihrer Heimat vertrieben oder ermordet wurden. Der Beitrag erweitert den kurzen Eintrag für Dr. Hans Frankenstein[3] Biografie auf der Website der DGKJ, abgefragt am 22. April 2023. in der Datenbank „Jüdische Kinderärzte 1933-1945. Entrechtet – geflohen – ermordet“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) um die Ergebnisse eigener Recherchen, Unterlagen aus Australien sowie Dokumente, die Websites zur Familienforschung bereitstellen.
Peter Dehn im Januar 2024.
Von Görlitz via Australien nach Israel
Sigismund und Caecilie Frankenstein[4] Heiratseintrag vom 16.2.1899, Standesamt Jauer/Ostpreußen, abgerufen am 23. April 2023. heirateten im Februar 1899 in Jauer (heute: Jawor, Polen). Ihr Sohn Hans[5] Geburtsdatum, Ehepartnerin, Verhaftung in England und Daten des Aufenthalts in Australien sind der ausrtalischen Personalakte von Dr. Frankenstein entnommen, National Archives of Australia, NAA_ItemNumber8617176. wird am 7. Dezember 1899 in Allenstein/Ostpreußen (heute: Olsztyn, Polen) geboren. Er heiratet Charlotte Langner, geboren am 1. Oktober 1899 in Breslau. Am 15. Juni 1928 werden der Sohn Ludwig, am 14. August 1931 die Tochter Hanna in Görlitz geboren[6] Vgl. Einbürgerungsantrag der Familie für Palästina vom 19.12.1945..
1924 war Dr. Frankenstein in Breslau die Approbation erteilt worden. „Von 1925/26 bis 1932/33 (ist er) in den Görlitzer Adressbüchern als niedergelassener Kinderarzt[7] verzeichnet.“ Der „Reichs Medizinal Kalender[8] RMK 1933, Seite 140.“ (RMK) gibt im Jahrgang 1933 seine dortige Anschrift mit der Blumenstraße 2 an. RMK vermerkt für ihn sowohl die Fachqualifikation als Kinderarzt als auch einen Chefarztposten am Görlitzer St. Carolus Krankenhaus. .Ab Anfang 1934 wird ihm wegen seiner jüdischen Herkunft verboten, seine ärztlichen Leistungen an die Krankenkassen abrechnen.
Die Nationalsozialisten machten es damit jüdischen Ärzten aller Fachrichtungen unmöglich, eine eigene Praxis wirtschaftlich zu betreiben: So erging es auch seinen Görlitzer Kollegen Bertold Krebs[9] Eintrag in der DGKJ-Datenbank, abgerufen am 10. Mai 2023. und Arnold Malinowski[10] Eintrag in der DGKJ-Datenbank, Entry, abgerufen am 10. Mai 2023.. Jetzt gibt es in der östlichsten Stadt Deutschlands nur noch zwei statt fünf Kinderärzte. In Görlitz drängen die Nazis auch Erich Oppenheimer (Dermatologe) und die Allgemeinmediziner Rudolph Nürnberger (Stadt Görlitz) und Martin Schwarz (aus Penzig, Kreis Görlitz) aus dem Beruf[11] R. Otto „Vertreibung jüdischer Ärzte aus Görlitz“ in Ärzteblatt Sachsen 4/2005 Seite 173f. Erwähnt werden diese und anderer Namen verfolgten jüdische Ärzte aus Görlitz.. Dr. Albert Blau[12] Cf. R.Otto aao., Chefarzt des 1927 von einem katholischen Orden gegründeten und betriebenen St. Carolus-Krankenhauses,[13] Wikipedia über das Krankenhaus, abgerufen am 25. 4.2023. verliert durch die rassistische Verfolgung der Nazis seine Existenz.
Vertreibung aus Görlitz
In einer Liste jüdischer Geschäftsleute[14] „Jüdisches Leben vor 1933“ in Görlitz; Zeitsprünge-Projekt, abgerufen am 5.5.2023. in Görlitz des Jahres 1935 ist Dr. Frankenstein nicht mehr aufgeführt. Mehrere Ausgaben des Jahrbuchs „The Medical Directory[15] Vgl. Ausgaben 1940, Seite 1968 und 1942, Seite 2018.“ (TMD) notieren für ihn den Zusatz „M.D.U. Genoa, 1933“ in der Spalte „Qualifications“. Die Familie könnte also frühzeitig nach Italien gegangen sein; Hans Frankenstein hat dort eventuell praktiziert oder nochmals studiert, um italienische Anforderungen zu erfüllen. Auch „The Medical Register[16] TMR 1939 Seite 1826; 1941 Seite 2915; 1942 Seite 1969, 1943 Seite 2025.“ (TMR) listet in der Ausgabe 1939 Dr. Hans Frankenstein ab dem 29. August 1938 in Genua. Beide Verzeichnisse nennen die Anschrift Via Galata 33/11.
Unklar ist jedoch, ob Genua für Dr. Frankenstein nur eine kurzfristige Zwischenstation auf seinem weiteren Fluchtweg oder längerer Aufenthaltsort war. Wann genau er in England eintraf und auf welchem Reiseweg, ist nicht bekannt. Sicher ist jedoch, dass seine Familie ihn nicht begleiten konnte: In einem australischen Fragebogen nennt er Ende 1940 seine Frau Charlotte als nächste Verwandte und ihre neue Genueser Adresse[17] Siehe NAA_ItemNumber8617176. in der Via Cesare Cabella 22B. Zumindest zu der Zeit lebt sie mit den Kindern also in Genua.
Als Jude verfolgt, als „enemy alien“ deportiert
In England wird das Kitchener Camp[18] Clare Ungerson „Four Thousand Lives“, Cheltenham 2019 (2. Auflage), Seite 53ff. Anfang 1939 als Reaktion auf die „Kristallnacht“ eröffnet. Es ist eigentlich als Durchgangslager für Flüchtlinge gedacht, die Einreise-Papiere und andere Unterlagen für Drittländer haben oder erwarten. Die Nutzbarmachung des bis dahin brachliegenden Militärstandortes und der Lagerbetrieb werden komplett aus Spenden finanziert.
Wann und warum sich die Wege Dr. Frankensteins und seiner Familie trennten, ist nicht bekannt. In England traf er am 5. Juni 1939[19] Karteikarte im Archiv von World Jewish Relief, Mail des WJR vom 3.7.2023. ein. Eine Internierten-Karteikarte des britischen Home Office (Innenministerium) trägt das Datum 12. Dezember 1939[20] Abschrift der Karteikarte auf der Website des Kitchener Camp, abgerufen am 2.5.2023. für seine Verhaftung. In einer etwas früher entstandenen Belegungsliste des Kitchener Camp ist sein Name nicht enthalten. Die Karteikarte nennt 44 Wingate Road als seine damalige Adresse in Liverpool, wo der Mediziner jedoch keine Arbeit bekam. Einen Wunsch zur Repatriierung habe er nicht, wird dort bürokratisch-lakonisch (und wenig verwunderlich) vermerkt. Als Ergebnis der Befragung stellt der britische Inlandsgeheimdienst MI5 fest: „Not to be interned[21] Ebenda.“ – nicht zu internieren. Das entspricht einer Einstufung von Flüchtlingen aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei in der Kategorie „C“ als befreundete Ausländer aus „Feindstaaten“.
Ein halbes Jahr später ist diese amtliche Aussage für ihn, wie für tausende andere Flüchtlinge, nichts mehr wert. Hans Frankenstein wird nach seiner Angabe am 27. Juni 1940[22] Siehe NAA_ItemNumber8617176. im Kitchener Camp interniert. Die auf einer zweiten Karteikarte vermerkte Entlassung („release“) am 10. Juli 1940 ist als übler bürokratischer Sarkasmus[23] Karteikarte aus dem System der britischen Verwaltung von Internierten. zu bewerten. Denn dieses Datum trifft zwar das Ende des Lageraufenthaltes, aber keinesfalls ein Ende der Internierung.
Mit der Dunera nach Australien
Denn Dr. Frankenstein wird mit rund 250 Lagerkameraden direkt vom Kitchener Camp auf die HMT Dunera gebracht, die an eben jenem 10. Juli 1940 in Liverpool ablegt. Das von der britischen Marine für Truppentransporte angemietete Passagierschiff ist im Militärdienst für 1.157 Menschen zugelassen. Jetzt fungiert es als Gefangenenschiff nicht nur für mehr als 2.000 Flüchtlinge aus verschiedenen britischen Lagern. An Bord gebracht werden auch 250 Deutsche (darunter etliche Nazis) und 200 Italiener – alle Überlebende des am 2. Juli von einem deutschen U-Boot versenkten Internierten-Schiffs Arandora Star. Die Dunera ist also schon ohne die 300 Wachsoldaten und die Schiffsbesatzung hoffnungslos (und rechtswidrig) überfüllt. Während der 57tägigen Reise nach Australien sind die Internierten hinter Stacheldraht gesperrt. Wachsoldaten werden übergriffig; es kommt zu massenhaften Diebstählen von Eigentum, zur Vernichtung wichtiger Dokumente der Internierten und antisemitischen Ausschreitungen. Die sanitären Verhältnisse an Bord sind infolge der mehr als doppelten Überbelegung katastrophal und fern hygienischer Grundsätze.
Die Dunera unterfährt am 6. September 1940 die Sydney Harbour Bridge und legt an der Jones Wharf an. Die Internierten werden sofort mit der Bahn ins Camp 7 bei Hay (Bundesstaat New South Wales) gebracht, wo sie hinter Stacheldraht inhaftiert werden. Dort, wie auch in anderen australischen Lagern, wird den Internierten die Selbstverwaltung des Lageralltags überlassen. Dr. Frankenstein vertritt im Lagerrat des Camps 7 seine Kameraden aus dem Kitchener Camp. Vom Plenum wird er zum stellvertretenden Leiter des Lagerparlaments[24] Inglis u.a., aao Seite 218. gewählt. Mitte 1941 wird Dr. Frankenstein kurzzeitig ins Internierten-Lager Orange (New South Wales) gebracht. Er und alle Hay-Internierten kommen dann in ein Lager bei Tatura[25] Laufzettel für Internierte in Australien, NAA_ItemNumber9905995. (Victoria).
Ende der Internierung, Ansiedlung in Palästina
Nach heftiger öffentlicher und parlamentarischer Kritik an den Abschiebungen der Nazigegner und den Ereignissen auf der Dunera beginnt die britische Regierung Mitte 1941 mit der fallweisen Rücknahme von Internierungen. Bis Mitte 1943 werden mehr als 1.100 Männer entlassen und auf dem Seeweg nach England gebracht, um dort den Kriegszielen in Pioniereinheiten oder auf andere Art zu nutzen.
Mindestens 500 Mann wollen in Australien bleiben. Sie dürfen sich ab Anfang 1942 „freiwillig“ für eine Arbeitseinheit[26] Vgl. Aktennotiz des General-Adjudanten für das australische Parlament, 29. März 1946. In NAA_ItemNumber4938132, Blatt 28, Ziffer d. der Armee melden. Dr. Frankenstein will das offenbar nicht. Für ihn endet die Internierung laut den amtlichen australischen Unterlagen erst am 9. August 1943. Da dienen die meisten Lagerkameraden schon länger als ein Jahr in der Arbeitseinheit 8th Employment Company. Im Gegensatz zu anderen Mitinternierten wird Hans Frankenstein nicht „nach England“, sondern ausdrücklich „nach Übersee“ entlassen[27] Siehe NAA_ItemNumber8617176..
Mit 17 anderen Dunera Boys tritt er seine Reise nach Palästina[28] Siehe NAA_ItemNumber216020. auf der SS Waipawa im August 1943 an. Über seine erste Zeit in Palästina ist nichts bekannt. Nach Jahren der Trennung kommen Hans Frankenstein, seine Frau Charlotte und die Kinder Ludwig und Hanna in Palästina endlich wieder zusammen. Sie wohnen jetzt in Raanana, einem Vorort von Tel Aviv.
Die nächste Information datiert von Ende 1945. Die Familie stellt am 19. Dezember 1945 ihren Antrag auf Einbürgerung in Palästina. Als Bürgen fungieren Dr. Burstein und Mosche Monaschewitz. Die Angabe der Arbeitsstelle bei „Kupat Cholim“ beider Bürgen deutet darauf, dass Dr. Frankenstein Kontakte zu jüdischen medizinischen Einrichtungen[29] Kupat Cholim wurde 1933 für das Gesundheitswesen Palästinas gegründet. Heute betreibt die Nachfolgeorganisation Leumit 320 Medizinzentren, 150 Apotheken sowie Labors in Israel und hat 720.000 Leistungsempfänger. aufgenommen hatte, um wieder in seinem Beruf zu arbeiten.
Laut verschiedenen Stammbaum-Quellen[30] Vgl. Einträge für Hans und Charlotte Frankenstein unter www.myheritage.de, abgerufen am 22.4.2023. verstarb Dr. Hans Frankenstein 1982. Seine Frau Charlotte überlebte ihn um vier Jahre.
Fußnoten
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- [1]↑Inglis, Spark u.a. „Dunera Lives. A Visual History“, Melbourne 2018, S. 128.
- [2]↑Eduard Seidler, Vorwort zum Buch „Jüdische Kinderärzte 1933 – 1945. Entrechtet – geflohen -ermordet“, Freiburg 2014, abgerufen am 23.4.2023.
- [3]↑Biografie auf der Website der DGKJ, abgefragt am 22. April 2023.
- [4]↑Heiratseintrag vom 16.2.1899, Standesamt Jauer/Ostpreußen, abgerufen am 23. April 2023.
- [5]↑Geburtsdatum, Ehepartnerin, Verhaftung in England und Daten des Aufenthalts in Australien sind der ausrtalischen Personalakte von Dr. Frankenstein entnommen, National Archives of Australia, NAA_ItemNumber8617176.
- [6]↑Vgl. Einbürgerungsantrag der Familie für Palästina vom 19.12.1945.
- [7]↑
- [8]↑RMK 1933, Seite 140.
- [9]↑Eintrag in der DGKJ-Datenbank, abgerufen am 10. Mai 2023.
- [10]↑Eintrag in der DGKJ-Datenbank, Entry, abgerufen am 10. Mai 2023.
- [11]↑R. Otto „Vertreibung jüdischer Ärzte aus Görlitz“ in Ärzteblatt Sachsen 4/2005 Seite 173f. Erwähnt werden diese und anderer Namen verfolgten jüdische Ärzte aus Görlitz.
- [12]↑Cf. R.Otto aao.
- [13]↑Wikipedia über das Krankenhaus, abgerufen am 25. 4.2023.
- [14]↑„Jüdisches Leben vor 1933“ in Görlitz; Zeitsprünge-Projekt, abgerufen am 5.5.2023.
- [15]↑Vgl. Ausgaben 1940, Seite 1968 und 1942, Seite 2018.
- [16]↑TMR 1939 Seite 1826; 1941 Seite 2915; 1942 Seite 1969, 1943 Seite 2025.
- [17]↑Siehe NAA_ItemNumber8617176.
- [18]↑Clare Ungerson „Four Thousand Lives“, Cheltenham 2019 (2. Auflage), Seite 53ff.
- [19]↑Karteikarte im Archiv von World Jewish Relief, Mail des WJR vom 3.7.2023.
- [20]↑Abschrift der Karteikarte auf der Website des Kitchener Camp, abgerufen am 2.5.2023.
- [21]↑Ebenda.
- [22]↑Siehe NAA_ItemNumber8617176.
- [23]↑Karteikarte aus dem System der britischen Verwaltung von Internierten.
- [24]↑Inglis u.a., aao Seite 218.
- [25]↑Laufzettel für Internierte in Australien, NAA_ItemNumber9905995.
- [26]↑Vgl. Aktennotiz des General-Adjudanten für das australische Parlament, 29. März 1946. In NAA_ItemNumber4938132, Blatt 28, Ziffer d.
- [27]↑Siehe NAA_ItemNumber8617176.
- [28]↑Siehe NAA_ItemNumber216020.
- [29]↑Kupat Cholim wurde 1933 für das Gesundheitswesen Palästinas gegründet. Heute betreibt die Nachfolgeorganisation Leumit 320 Medizinzentren, 150 Apotheken sowie Labors in Israel und hat 720.000 Leistungsempfänger.
- [30]↑Vgl. Einträge für Hans und Charlotte Frankenstein unter www.myheritage.de, abgerufen am 22.4.2023.