Es könnte durchaus sein, dass im Nachlass des einen oder anderen Dunera-Boy oder Queen Mary-Internierten Fotos von Harry Jeidels aufgehoben wurden. Im Nachlass von Heinz und Ida Dehn fanden sich jedenfalls überraschend viele Fotos mit dem Stempel des Fotografen mit Berliner Wurzeln. Nach Flucht und Deportation konnte er seinen Beruf erst 1942 in Australien wieder aufnehmen. In den 1950ern wurde er ein bekannter Theaterfotograf in Melbourne. Im Ruhestand widmete er sich einem seltenen Hobby. War Harry der Erfinder des Podcast? Diese Biografie veröffentlichen wir aus Anlass seines 120. Geburtstages am 22. Februar 2025.
Peter Dehn, im Februar 2025.
Von Schöneberg nach Queensland

Harrys Geburtsurkunde des Standesamtes Schöneberg.
Der Bankbeamte Hugo Jeidels, wohnhaft in der Barbarossastraße 66, erschien auf dem Standesamt von Berlin Schöneberg, um die Geburt seines Sohnes Harry am 22. Februar 1905 aktenkundig zu machen. Der Eintrag Nr. 469 stellte fest, dass „Frieda Jeidels geborene Jacobsohn, seine Ehefrau, mosaischer Religion“, den Jungen in der gemeinsamen Wohnung zur Welt gebracht hatte. Hugo und Frieda hatten am 4. Februar 1904[1] Standesamt Charlottenburg, Eintrag Nr. 71 vom 4.2.1904 via ancestry.de, abgerufen am 18.10.2024. in Berlin geheiratet
Hugo wurde am 29. Juni 1852 in Charlottenburg geboren. Seine Eltern, der Jurist Paul Jeidels und seine Frau Amalia geborene Herz, stammten aus Würzburg. Sie waren zum Zeitpunkt von Hugos Eheschließung verstorben. Hugo befand sich seit dem 17. Mai 1939 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin Wedding. Dort verstarb er am 23. Januar 1940[2] Vgl. Mapping the Lives. Dort falsches Geburtsdatum 1862. Abgerufen am 20.11.2024..
Frieda Jacobsohn wurde am 24. April 1875 in Carthaus (Ostpreußen) als Tochter des Kaufmanns Jakob und seiner Frau Amalie Laserstein (ca. 1848 – 30.12.1910) geboren. Frieda wurde am 18. Oktober 1941 ins Getto Lodz deportiert. Die letzte Nachricht über sie war die Deportation am 8. Mai 1942 ins Vernichtungslager Kulmhof (Chelmo). Sie wurde auf den 8. Mai 1945 für tot erklärt. Im jüdischen Adressbuch für Berlin sind Eltern und Sohn zuletzt unter der Anschrift Martin-Luther-Straße 56 in Berlin Schöneberg verzeichnet. Bis zur Ausgabe 1939 ist Harry dort mit der Angabe „Werkst. f. Pressephot[3] Telefonbuch Berlin 1939, via ancestry.de, abgerufen am 20.7.2024.“ eingetragen.
Es geht auch ohne Blitz
Nach der Schule studierte Harry Jeidels Chemie und Physik in Berlin. Zugleich stieg er in die professionelle Fotografie ein. Er arbeitete seit etwa 1927 u.a. für den Ullstein Verlag[4] Wikipedia über den Ullstein Verlag, abgerufen am 20.10.2024., den damals größten Verlag Deutschlands. Dort wurden mehrere Tageszeitungen und etliche Fach- und Publikumszeitschriften sowie Bücher – teils mit hohen Auflagen – verlegt. Möglicherweise wurden Harrys Fotos auch von der konzerneigenen Agentur Ullstein Bilderdienst angekauft und vermarktet. Als ein Arbeitgeber wurde auch die Fox-Filmproduktion genannt. Schon damals war er – neben aktuellen Bildberichten – als Theaterfotograf und mit Werbefotos für Prominente aktiv. Richard Tauber, Peter Lorre, Paul Henreid, Gitta Alpar und andere bekannte Künstler[5] Zeitungsrepro und ungezeichneter Artikel aus Dunera News Nr. 2, Seiten 18/19, erschienen im November 1984, abgerufen am 10.10.2023. ließen sich von ihm porträtieren.
Die Qualität seiner Fotos wurde durch seinen Verzicht auf das damals übliche Blitzlichtpulver[6] Wikipedia über die Geschichte der Blitzfotografie, abgerufen am 20.7.2024. erreicht. Seine Kenntnisse der Chemie und Physik halfen ihm dabei. Er hatte chemische Mixturen entwickelt, um auch in schlechten Lichtverhältnissen und mit einer Schnellentwicklung gute Ergebnisse zu erzielen. Blitzgeräte sind bis heute aus gutem Grund ein Tabu bei den Fotoproben von Bühnenstücken und Standbildern von Filmdrehs.
Starporträts von Harry Jeidels wurden auch als Fotokarten in Zigarettenpackungen verbreitet, die damals beliebte Sammelobjekte[7] Cassia Jay „Harry Jay“, in Dunera News Nr. 35, Seite 14, abgerufen am 10.10.2023. waren.

Die österreichische Zeitschrift für Fotoamateuere „Photo und Kinosport“ veröffentlichte im Oktober 1932 diesen Bericht von Harry Jeidels über seine Porträt-Sitzung mit dem Tenor Richard Tauber. Quelle: Publikationsarchiv Anno der Österreichischen Nationalbibliothek. (Foto klicken zum Vergrößern und Lesen).
Die Contax I kam 1932 als erste Kleinbildkamera (35mm Film Typ 135, Negativformat 24 x 36 mm) von Carl Zeiss, Dresden, in den Handel. Die von August Nagel für die Fa. Nettel entwickelten Balgenkameras der Marke Contessa waren für Rollfilm (Typ 127) gedacht und produzierten Negative im „Mittelformat“ 4 x 6,5 cm.
Die Zeitungsseiten mit Fotos von Harry Jeidels stammen aus dem Publikationsarchiv Anno der Österreichischen Nationalbibliothek (automatischer Bildwechsel oder Pfeile benutzen).
Flucht nach Wien
Die Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933 brachte den ersten Einschnitt seines Lebens. Harry verließ Berlin und Deutschland und ging nach Wien[8] Die Informationen über die Wiener Zeit von Harry Jeidels wurden dem Artikel von Walter Mentzel „1938 – Aus Wien vertriebene/ermordete jüdische Fotografen und Fotografinnen“ entnommen. Abgerufen am 20.11.2024.. Dort meldete er am 18. Oktober 1933 ein „Photographengewerbe[9] Eintragungen in der den Erwerbsteuerkataster, Amtsblatt der Stadt Wien am 25. Oktober 1933, Seite 752, abgerufen am 10.2.2025. beschränkt für Zeitungszwecke“ an und betrieb bald ein Fotoatelier in der Wiesingerstraße 6. Im Januar 1934 wurde er Teilhaber am „Residenz-Atelier für moderne Photographie“, das der Wiener Fotograf Berthold Friedmann (1868 – 1937) 1910 im sog. „Residenzpalast“ am Fleischmarkt 1 gegründet hatte. Nach Friedmanns Tod firmierte die Firma kurze Zeit unter der Leitung seiner Witwe Regina Friedmann als „Residenz-Atelier-Jeidels“ bis März 1938.
Neben seiner Teilhaberschaft am „Residenz-Atelier“ belieferte Harry Jeidels auch in Wien Zeitungen mit Fotos von Theater- und Tanzstücken. Bis März 1938 wohnte er in der Taborstraße 1. Wahrscheinlich trat er sofort nach dem Einmarsch der Reichswehr in Österreich am 12. und 13. März 1938 die nächste Etappe seiner Flucht an.
Das Residenz-Atelier hatten der dort seit 1920 angestellte Karl Rössler, ein NSDAP-Mitglied, und ein Hanns Hieber im November 1938 gekauft. Hieber schied schon Anfang 1939 aus, sodass der Betrieb als „arisiert“ galt. Regina Friedmann wurde am 20. Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert und von dort am 23. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka überstellt. Ihre Tochter bemühte sich aus den USA später vergeblich um eine Restitution.
Deportation statt Asyl
Über Italien kam Harry nach England[10] Dunera News Nr. 2 aao.. Er siedelte sich im Londoner Stadtteil Holborn an. Anlässlich der britischen Volkszählung vom 29. September 1939 wurden Johanna Jeidels und er in der Old Gloucester St. 8 erfasst. Sie wurde als Johanna Augustin[11] Vgl. Ziviler Heiratsindex England und Wales für das 3. Quartal 1939, via ancestry..de am 24. März 1910 in Wien geboren. Man darf wohl davon ausgehen, dass Harry und Johanna sich dort kennen gelernt haben. Laut britischen Dokumenten[12] Karteikarten des Home Office über Johanna Jeidels, via ancestry.de. wurden sie zunächst als Flüchtlinge anerkannt. Harry gab Johanna 1942 beim Eintritt in die australische Armee als Kontaktperson an, ließ das aber später ändern. Über ihr Leben nach der erzwungenen Trennung ist nichts bekannt.

Sein Status als Flüchtling wurde ihm am 12. Oktober 1939 aberkannt und er wurde damit zum „feindlichen Ausländer“. Das Home Office vermerkte seinen Job als Fotograf bei einer Londoner Firma. Weil aber die Briten nichts daran hinderte, Freunde blindwütig als Feinde abzustempeln, verhaftete die Londoner Polizei Harry am 28. Juni 1940. Damit begann seine Zeit als Internierter. Zwei Wochen später musste er die Höllenreise auf der Dunera nach Australien antreten.
In der Internierung
Harry Jeidels war einer der rund 2.000 Dunera-Deportierten, die nach der Ankunft in Sydney direkt vom Kai mit der Bahn nach Hay im australischen Bundesstaat New South Wales gebracht wurden. Er wurde im Camp 8 untergebracht, einem der beiden Internierten-Lager. Diese befanden sich in der Nähe des Bahnhofs und waren durch eine Straße voneinander getrennt. Hinter dreifachem Stacheldraht bauten die Internierten eine Selbstverwaltung auf. Neben dem Sport war die „Lager-Universität“ ein wichtiger Aspekt. Dort hielten Internierte für ihre Kameraden Vorträge zu vielfältigen wissenschaftlichen und technischen Themen und gaben Sprachunterricht.
Im Lager Nr. 4 bei Tatura waren die Dunera-Internierten von Juli 1941 bis zu ihrer Entlassung nach England oder in die australische Armee untergebracht. Dort hielt Harry Jeidels Vorlesungen u.a. über das Sicherungswesen im Bahn-, Schiffs- und Flugverkehr, die Geschichte des Postwesens, über Tonfilm und Schallplatte und natürlich über Fotografie. Er trug zugleich Verantwortung als Schulleiter (Headmaster). Der Lagerkommandant gewährte ihm daher die Erleichterung, zwischen den getrennten Compounds des Lagers wechseln zu dürfen.
Als „Arbeitssoldat“ in der australischen Armee
Nach der Entlassung aus der Internierung folgte Harry Jeidels dem Aufruf, einer Arbeitseinheit der australischen Armee beizutreten. Seinen Dienst trat er am 8. April 1942[13] Australian Government, Department of Veteran’s Affairs, Service Record Harry Jeidels, abgerufen am 25.10.2024. an. In der fast ausschließlich aus deutschen und österreichischen ehemaligen Zivilinternierten gebildeten 8th Employment Company wurde er –wie Franz Lebrecht und einige andere Kameraden – schon nach kurzer Zeit zum Lance Corporal[14] Niedrigster Mannschaftsdienstgrad der australischen Armee. ernannt. Eingesetzt war er zumeist in Tocumwal und Albury[15] Dienstblatt in der Militärakte Harry Jeidels/Jay, National Archives of Australia, NAA_ItemNumber6255117.. Auf den Bahnhöfen dieser Orte an der Grenze von Australiens Bundesstaaten Victoria und New South Wales luden die Soldaten militärische und andere Güter zwischen Zügen unterschiedlicher Spurweite um.
Ende 1943 verzeichnete seine Akte mehrere Aufenthalte im Krankenhaus, u.a. wegen chronischer Depression (Dysthymia). Warum er 1945 zum Private (einfacher Soldat) degradiert wurde, ist dem „Service and Casualty Form“ nicht zu entnehmen. Ebenso unklar ist, warum die bereits ausgefertigte Entlassungsurkunde am 15. Januar 1943 zurückgezogen wurde. Der Vermerk „weiterlaufende Recherchen“ in der Militärakte sagt nichts Genaues dazu aus. Erst am 27. Februar 1946 wurde er aus der australischen Armee entlassen.

Für die Vorträge der Lager-Uni wurde mit handgemalten Plakaten geworben. Hier für Vorträge im Jahr 1941 von Harry Jeidels zum „Sicherungswesen“ und zu „Tonfilm und Schallplatte“. Dank an Harry für seine Arbeit als Lektor und Schulleiter im Lager Tatura. Quelle: Jewish Museum of Australia, Nr. 3242, 3399,3450; gespendet von Cassia Jay.

Harry in der Uniform der australischen Arbeitseinheit.
Quelle: Archiv Jeidels.

Heinz mit Armeekameraden. Die Aufnahme seiner späteren Frau Ida ist 1944 datiert – also vor Harry Jeidels Namensänderung.
Quele: Familienarchiv Dehn.


Heinz Dehn als Soldat in Albury und hier typisch mit Zigarette . Alle Fotos stammen von Harry Jay und entstanden während Heinz‘ Dienstzeit in der 8th Employment Company Ende November 1942 bis März 1946.
Während des Armeedienstes konnte Harry wieder mit der Fotografie beginnen. Davon zeugen nicht nur Fotos von Heinz Dehn in Albury. Er fertigte u.a. zielgerichtet Porträts seiner Kameraden an. Für den beliebten Kommandeur der 8. Employment Company Captain Edward „Tip“ Broughton kopierte Harry größere Stückzahlen eines Porträts, die er auf Karton aufzog. Broughton versah diese mit Widmungen und verschenkte sie nach seiner Verabschiedung als Erinnerung an seine Untergebenen.
Für seine Einheit war Harry wohl so etwas wie der „Hausfotograf“. Als aus der Truppe heraus das satirisch-antifaschistische Musical „Sgt. Snow White“ entwickelt wurde, dokumentierte er die Aufführung 1943 im Melbourner Union Theater fotografisch.

Bei seinem Ausscheiden aus dem Dienst schenkte der Kommandeur der 8th Employment Company vielen seiner Soldaten sein Portrait von Harry Jay. Darunter waren William Henry Herr und der Soldat Tichauer „The Tanner“. Quelle: Jewish Museum of Australia, Nr. 3262 (gespendet von W.D. Herr), und Nr. 3477.

Die Zeitschrift „Pix“ illustrierte ihren Artikel am 26. Juni 1943 über „Sgt. Snow White“ mit Fotos von Harry Hay. Quelle: Zeitungsarchiv Trove, Australische Nationalbibliothek NLA.
Wieder als Profi hinter der Kamera

Bestätigung des Armeedienstes durch die Veteranen-Abteilung der australischen Regierung.
Im November 1944 wird in seiner Dienstakte die Namensänderung[16] Dienstblatt aao. von Jeidels zu Jay eingetragen. Am 22. November 1945 wird Harry Jay Staatsbürger Australiens[17] Einbürgerungs-Urkunde vom 22.11.1945, NAA_ItemNumber31756064.. Nach der Entlassung aus dem Militärdienst im Februar 1946 konnte er sich bald als Berufsfotograf in Melbourne etablieren.
Unter seinen frühen Kunden waren Heinz Dehns spätere Frau Ida, beider guter Freund Franz Lebrecht und andere Ex-Internierte. Auch wenn es den Dunera Boys oft wohl nur um kleinere Aufträge wie z.B. Passfotos ging, bemühte sich Harry sichtbar, seine „Models“ zu inszenieren. Die „Dunera-Connection“ mag bei der Etablierung des Fotostudios im Melbourner Geschäftsdistrikt geholfen haben. Räume fand er im April 1946 in der Collins St. 117[18] Anzeige im Australian Jewish Herald vom 18.4.1946, Trove, abgerufen am 20.10.2023., schräg gegenüber vom Rathaus der Metropole.
„Als ich mein rattenverseuchtes (Melbourne war damals voller Ratten) Studio in der Collins Street zum ersten Mal öffnete, arbeitete ich um 5 Uhr morgens in einer Schinkenfabrik, bevor ich um 11 Uhr als Fotograf Harry Jay anfing“, erinnerte er sich 1984[19] Dunera News Nr. 2 aao. in einem Interview. „Wir sind auf Studioporträts spezialisiert, nehmen aber auch Aufträge für Hochzeiten und in Ihrer Wohnung an“, inserierte er zur Eröffnung im Mai 1946.
Es war sicher das „Auge“ des Fotografen, das den Melbourner Theaterchef David N. Martin veranlasste, Harry Jay vom Fleck weg als Hausfotografen für das Varieté-Theaters Tivoli zu verpflichten. Später engagierte ihn auch Wirth’s Circus[20] Wikipedia über Wirth’s Circus, den größten Circus Australien, der 1907 bis 1957 seinen Stammsitz in Melbourne hatte, abgerufen am 20.11.2024..

„Komme zu Ihnen nach Hause …“ Harrys Inserat auf Seite 11 der „Australian Jewish News“ vom 3. Mai 1946. Quelle: NLA/Trove.
Harry Jay arbeitete wieder nach seinem Prinzip, ausschließlich vorhandenes Licht zu benutzen. Das nutzte er gerade auch für schwierige Lichtsituationen z.B. mit Artisten auf der Bühne des Tivoli. Er war der erste, der in Australien eine Bühnenshow mit Kurzdarbietungen von Comedians, Artisten, Sängern und Tänzern ausschließlich mit „available light[21] Dunera News Nr. 2, aao.“ fotografierte. Das tat er gelegentlich während einer laufenden Show, von einer versteckten Position mitten im Publikum aus. Auch hinter den Kulissen betätigte er den Auslöser und gestaltete PR-Fotos für viele australische Bühnenstars und internationale Gäste. Seine eigenen Chemikalien, die er in Berlin ausgetüftelt hatte, waren schwierig im Handling; über Jahre waren Haus, Studio, Kleidung und seine Hände gelb verfärbt[22] Ebenda., wird über seine Arbeit in Melbourne berichtet.
Liebe auf den ersten Blick
Ellen Cassia Grayeff[23] Vgl. Billion Graves, abgerufen am 20.11.12024. (Grajew) wurde am 6. Mai 1909 in Königsberg geboren und hatte einige Zeit in der Joachim-Friedrich-Straße in Berlin-Halensee[24] Eva C. Schweitzer, „Wer weiß etwas über Ellen &/ Ella-Ida Tucholsky?“ in aktuell, Nr. 105 7/2020, Seite 63, abgerufen am 18.10.2024.] gelebt. Sie war in der Theaterszene aktiv. Nach dem Tod der Mutter 1936 hielt die Jüdin nichts mehr in Deutschland und sie bemühte sich um die Einreise nach Australien, wo die Familie Verwandte hatte. Die Papiere kamen 1937, und Mitte des Jahres kam sie dort an, berichtet ihr Bruder Felix[25] „Felix Grayeff – Migrant Scholar. An autobiography“. 1986/2003, digital: Verlag der Universitätsbibliothek Freiburg i.B., abgerufen am 20.11.2024. (1906 – 1981). Aufgrund ihrer Bemühungen konnte Felix ihr nachreisen. Als er im März 1938 in Australien eintraf arbeitete sie als Verkäuferin in Sydney.
1945 wurde Cassia Grayeff australische Staatsbürgerin[26] Einbürgerungsurkunde vom 12.3.1945, NAA_ItemNumber31528650.. In Sydney konnte sie sich inzwischen als Schauspielerin und Organisatorin von theaterbezogenen Veranstaltungen etablieren. Diese Arbeit verband sie mit anderen Flüchtlingen, darunter dem Dunera Boy Hans Margis. Für den jüdischen ehemaligen Schauspieler am Wiener Burgtheater, Prof. Fritz Blum[27] The Sydney Jewish News am 9.12.1949, Seite 11, Trove, abgerufen am 20.10.2023. (1875 – 1951), organisierte sie eine Veranstaltung zum 75. Geburtstag. Ihr Name fand in den jüdischen Medien Sydneys besondere Beachtung.
Cassia und Harry lernten sich beim Stapellauf der SS Himalya[28] Wikipedia über die SS Himalaya, abgerufen am 20.11.2024. am 6. Oktober 1949 kennen. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein: Drei Tage später machte er ihr einen Antrag. „Unser Werben war ein Wirbelwind aus Rosen und Briefen“, erinnerte sich Cassia in einem Interview. „Harry hatte den ältesten Spruch der Welt benutzt, als er mich in einem Restaurant in Kings Cross sah. ‚Haben wir uns nicht in Berlin getroffen?‘ Es hat aber funktioniert, weil ich aus Berlin kam, was er aber damals noch nicht wusste. Ein paar Wochen später kam ich mit einer Show von Arthur Askey nach Melbourne.“ Im April 1950 verlobten sich Harry und Cassia, ist einem Inserat[29] The Australian Jewish News am 6.4.1950, Seite 10, Trove, abgerufen am 20.10.2023. zu entnehmen. Sie heirateten[30] Anzeige in The Australian JEwish News am 3.6.1950, Seite 16, Trove, abgerufen am 20.10.2023. am 3. Juni 1950 in Melbourne.

Cassia Jay. Quelle: Archiv Familie Jeidels.

Verlobungsanzeige im Australian Jewish Herald vom 6. April 1940. Quelle: Trove.
Nicht nur Prominente …
Viele Stars wurden zu Freunden, die von den Jays gelegentlich großzügig bewirtet wurden. Eine Zeitung berichtete[31] The Argus, 10.8.1955, Seite 11, Trove, abgerufen am 20.10.2023.: Auf einer dieser Partys mixte und servierte die bekannte Pianistin Winifred Atwell[32] Wikipedia über Winifred Atwell. Sie hatte ihre Wurzeln in Trinidad und war in den 1950ern und 1960ern mit Ragtimes, Boogie-Woogies etc. erfolgreich. „Let’s Have Another Party“ brachte sie als erste dunkelhäutige Musikerin und erste Instrumentalistin, auf Platz 1 der britischen Charts. Ihre Position nutzte sie zur Kritik am Umgang mit den First Nations Australiens und an Rassismus, abgerufen am 25.11.2024. (1914 – 1983) einen von ihr eigens kreierten „Rum Boogie“-Cocktail. Jede Frau habe zum Abschied ein Taschentuch mit dem Rezept und dem Autogramm der Musikerin bekommen, notierte der Berichterstatter.
Die frühere Berliner Foto-Bekanntschaft, vielleicht auch beider Kindheit und Jugend in Berlin-Schöneberg, mögen Marlene Dietrich veranlasst haben, ihre Australien-Tour 1965 von Harry fotografisch dokumentieren zu lassen. In Australien entstanden u.a. auch Porträts des Dunera-Kameraden und Komponisten Felix Werder. Vor Harrys Kamera standen u.a. Liz Taylor, Luciano Pavarotti, die Beatles und die Rolling Stones.



Zu den Künstlern, die Harry Jay porträtierte gehörten der Komponist und Dunera Boy Felix Werder und die Rolling Stones. Quelle: Australian Performing Arts Collection, Arts Centre Melbourne, Geschenke von Harry und Cassia (1983).
Außerhalb der Theaterszene entstanden u.a. Luftbilder von Melbourne. Im Archiv des Australischen Sportmuseums befinden sich Aufnahmen von der Eröffnung der Olympischen Spiele 1956[33] Australian Sports Museum, via Suchfunktion. mit seinem Stempel auf der Rückseite. Sie zeigen den Einmarsch der australischen Mannschaft und ein Luftbild des Stadions.
In der Fotoszene Australiens war Harry ein angesehener Kollege. Der ehrenamtliche Job als Schatzmeister des Institute of Victorian Photographers[34] Cassia Jay in Dunera News Nr. 35, aao. wurde ihm 15 Jahre lang anvertraut, berichtete seine Witwe.
Vom Bild zum Ton – Erfinder des Podcast?
Vielleicht um etwas Abstand zur Fotografie zu gewinnen eroberte sich Harry Jay das Tonbandhobby und den Tausch von Aufnahmen – auch mit internationalen Hobbyfreunden. Nach dem Wechsel in den Ruhestand gründete er 1965 die Recording Society of Australia und wurde deren Präsident. Ein Freund aus Israel schrieb Cassia später u.a., dass Harrys Name durch eine Veröffentlichung im Newsletter „Tapespondences“ weltweit für seine Natur-Audios und mit dem Verein bekannt wurde. „Sein Name wurde ein geflügeltes Wort[35] Zit. n. Mike Sondheim „Harry Jay – Founder of Recording Society“. In Dunera News Nr. 26, Seite 9, erschienen im Februar 1993, abgerufen am 10.10.2023. im internationalen Bandaustausch“, hatte der Freund geschrieben, berichtete Cassia über die Anerkennung durch diese Community.

Neue Medien á la 1971: Die Fachzeitschrift „Electronics Today“ über das „Tape News Talking Magazine“.
1971 schrieb eine australische Audio-Fachzeitschrift[36] Electronics Today, September 1971, Seite 96, abgerufen am 20.7.2024. unter der Überschrift „New Media“, der Verband produziere ein „Tape News Talking Magazine“. „Man nimmt an, dass es die erste derartige Publikation weltweit ist“. Diese sprechende Zeitschrift berichte „ausgewogen über technische und allgemeine Nachrichten, Rezensionen, Clubnachrichten, Plattenbesprechungen, (habe) ein wenig Werbung und (gebe) Ratschläge für den Bandgeräte-Besitzer, um ihm zu helfen, die optimale Leistungseines Geräts zu erreichen.“ Als Redakteur fungierte Harry Jay.
Eine Zeitschrift zum Anhören? Damals war das wirklich neu. Heute ist das Konzept einer mehr oder weniger regelmäßigen Veröffentlichung von thematisch orientiertem Audiocontent als Podcast bekannt. Freilich macht das Internet die Verbreitung von Audio-Content heutzutage viel einfacher als der damals unabdingbare Postversand analoger Kassetten.
Harry Jay sei „in Australien und Übersee gut bekannt für seine Tier-Aufnahmen“, berichtete die Zeitschrift. Eine andere Quelle präzisierte sein Interesse an der Aufzeichnung von Naturgeräuschen aus dem australischen Busch und ergänzte: Auch den Sound von Shows im Tivoli zeichnete er für das Archiv des Melbourner Theaters auf.
Im Ruhestand
Im Ruhestand siedelten sich Harry und Cassia an der Gold Coast im australischen Bundesstaat Queensland an. Sein Archiv an Theaterfotos und Schauspieler-Porträts überließ er der Australia Performing Arts Collection.
Harry Jay starb am 22. April 1987, Cassia am 18. September 1999. Beide wurden in Melbourne beigesetzt.
Hinweis: Für ihre Unterstützung danken wir Irene Jeidels und Annelies Linssen in Delft (Niederlande). Sie sind Tochter und Enkelin von Harrys Cousin Kurt Jeidels. Weiterer Dank gilt dem Jewish Museum of Australia in Melbourne und dem Arts Centre Melbourne mit der Australian Music Vault & Australian Performing Arts Collection.

Harry in seinem Tonstudio. Quelle: Archiv Familie Jeidels.
Fußnoten
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- [1]↑Standesamt Charlottenburg, Eintrag Nr. 71 vom 4.2.1904 via ancestry.de, abgerufen am 18.10.2024.
- [2]↑Vgl. Mapping the Lives. Dort falsches Geburtsdatum 1862. Abgerufen am 20.11.2024.
- [3]↑Telefonbuch Berlin 1939, via ancestry.de, abgerufen am 20.7.2024.
- [4]↑Wikipedia über den Ullstein Verlag, abgerufen am 20.10.2024.
- [5]↑Zeitungsrepro und ungezeichneter Artikel aus Dunera News Nr. 2, Seiten 18/19, erschienen im November 1984, abgerufen am 10.10.2023.
- [6]↑Wikipedia über die Geschichte der Blitzfotografie, abgerufen am 20.7.2024.
- [7]↑Cassia Jay „Harry Jay“, in Dunera News Nr. 35, Seite 14, abgerufen am 10.10.2023.
- [8]↑Die Informationen über die Wiener Zeit von Harry Jeidels wurden dem Artikel von Walter Mentzel „1938 – Aus Wien vertriebene/ermordete jüdische Fotografen und Fotografinnen“ entnommen. Abgerufen am 20.11.2024.
- [9]↑Eintragungen in der den Erwerbsteuerkataster, Amtsblatt der Stadt Wien am 25. Oktober 1933, Seite 752, abgerufen am 10.2.2025.
- [10]↑Dunera News Nr. 2 aao.
- [11]↑Vgl. Ziviler Heiratsindex England und Wales für das 3. Quartal 1939, via ancestry..de
- [12]↑Karteikarten des Home Office über Johanna Jeidels, via ancestry.de.
- [13]↑Australian Government, Department of Veteran’s Affairs, Service Record Harry Jeidels, abgerufen am 25.10.2024.
- [14]↑Niedrigster Mannschaftsdienstgrad der australischen Armee.
- [15]↑Dienstblatt in der Militärakte Harry Jeidels/Jay, National Archives of Australia, NAA_ItemNumber6255117.
- [16]↑Dienstblatt aao.
- [17]↑Einbürgerungs-Urkunde vom 22.11.1945, NAA_ItemNumber31756064.
- [18]↑Anzeige im Australian Jewish Herald vom 18.4.1946, Trove, abgerufen am 20.10.2023.
- [19]↑Dunera News Nr. 2 aao.
- [20]↑Wikipedia über Wirth’s Circus, den größten Circus Australien, der 1907 bis 1957 seinen Stammsitz in Melbourne hatte, abgerufen am 20.11.2024.
- [21]↑Dunera News Nr. 2, aao.
- [22]↑Ebenda.
- [23]↑Vgl. Billion Graves, abgerufen am 20.11.12024.
- [24]↑Eva C. Schweitzer, „Wer weiß etwas über Ellen &/ Ella-Ida Tucholsky?“ in aktuell, Nr. 105 7/2020, Seite 63, abgerufen am 18.10.2024.
- [25]↑„Felix Grayeff – Migrant Scholar. An autobiography“. 1986/2003, digital: Verlag der Universitätsbibliothek Freiburg i.B., abgerufen am 20.11.2024.
- [26]↑Einbürgerungsurkunde vom 12.3.1945, NAA_ItemNumber31528650.
- [27]↑The Sydney Jewish News am 9.12.1949, Seite 11, Trove, abgerufen am 20.10.2023.
- [28]↑Wikipedia über die SS Himalaya, abgerufen am 20.11.2024.
- [29]↑The Australian Jewish News am 6.4.1950, Seite 10, Trove, abgerufen am 20.10.2023.
- [30]↑Anzeige in The Australian JEwish News am 3.6.1950, Seite 16, Trove, abgerufen am 20.10.2023.
- [31]↑The Argus, 10.8.1955, Seite 11, Trove, abgerufen am 20.10.2023.
- [32]↑Wikipedia über Winifred Atwell. Sie hatte ihre Wurzeln in Trinidad und war in den 1950ern und 1960ern mit Ragtimes, Boogie-Woogies etc. erfolgreich. „Let’s Have Another Party“ brachte sie als erste dunkelhäutige Musikerin und erste Instrumentalistin, auf Platz 1 der britischen Charts. Ihre Position nutzte sie zur Kritik am Umgang mit den First Nations Australiens und an Rassismus, abgerufen am 25.11.2024.
- [33]↑Australian Sports Museum, via Suchfunktion.
- [34]↑Cassia Jay in Dunera News Nr. 35, aao.
- [35]↑Zit. n. Mike Sondheim „Harry Jay – Founder of Recording Society“. In Dunera News Nr. 26, Seite 9, erschienen im Februar 1993, abgerufen am 10.10.2023.
- [36]↑Electronics Today, September 1971, Seite 96, abgerufen am 20.7.2024.