Eine oberflächliche Erinnerung verbindet den Autor mit dem Kinderarzt Dr. Ernst Ludwig Wasser. Irgendwann Anfang der 60er Jahre, war ich wohl nicht einmal zehnjährig und mal wieder erkältet. Warum mein Vater mich von Steglitz quer durch das damalige Westberlin in die Zehlendorfer Kinderarztpraxis von Dr. Ernst Wasser brachte, ist mir bis heute nicht klar. Klar ist, dass mir die lange Fahrt in der kalten Jahreszeit mit mehrfachem Umsteigen wenig behagte. Auch in dem überheizten Wartezimmer mit nörgelnden Kindern fühlte ich mich nicht besonders wohl. Obendrein erinnere ich mich weder an die Untersuchung, die Diagnose oder die Behandlung und schon gar nicht daran, was die Erwachsenen bei der Gelegenheit „nebenbei“ besprochen haben mögen. Dennoch förderte die Erinnerung den Namen des Kinderarztes Jahrzehnte später wieder an die Oberfläche und die Ergebnisse erster Recherchen überraschten. Auf welcher der gemeinsamen Lebensstationen sich die beiden erstmals begegneten, bleibt jedoch unbekannt.
Peter Dehn im Januar 2024.
Als Kinderarzt in Berlin und Schneidemühl
Ernst Ludwig Wasser[1] Geburtseintrag Nr. 84 vom 28.3.1893. wird am 23. März 1893 in Züllichau (heute Sulechów, Polen) geboren. Seine Eltern sind der Rechtsanwalt und Notar Albert Wasser[2] Standesamt Charlottenburg, Sterbeeintrag Nr. 563 vom 21.2.1920. (1857-1920) und die in Posen[3] Heute ein Ortsteil von Neustadt an der Orla, Thüringen. geborene Rosa Friedländer[4] Standesamt Charlottenburg, Sterbeeintrag Nr. 1872 vom 30.9.1914. (1865-1914). Ernsts ältere Schwester Elfriede[5] Geburtseintrag Nr. 164 vom 4.7.1890. wird am 2. Juli 1890 in Züllichau geboren; sie wird am 29. Januar 1943 aus Berlin nach Auschwitz[6] Vgl. Mapping the Lives, abgerufen am 12.5.2023. deportiert und dort ermordet.
Ernst Wasser studiert von 1913 bis 1920 Medizin in Heidelberg und Berlin. Sein Studium wird vom Militärdienst[7] Vgl. National Archives of Australia (NAA), NAA_ItemNumber9907366. für das deutsche Kaiserreich 1914 bis 1919 unterbrochen. 1921 bis 1923 ist er als Assistenzarzt beim Städtischen Kinder- und Mütterheim Berlin-Charlottenburg und in der I. Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses Berlin-Westend[8] Vgl. Biografie Ernst Wasser, Website der DGKJ, abgerufen am 25.2.2023. Diese Quelle wird im Weiteren nicht gesondert ausgewiesen. angestellt. Er wohnt wenig entfernt in der Danckelmannstraße 32[9] Berliner Adreßbuch, Ausgabe 1920..
Am 15. September 1921 heiraten Ernst Wasser und Annemarie Martina Sochatzky[10] Heiratseintrag des Standesamtes Königstein/Taunus Nr. 21 vom 15.9.1921., geboren am 27. September 1897 in Finsterwalde. Sie haben zwei Töchter: Anne Rose[11] Vgl. Angaben von www.ancestry.de, abgerufen am 18. April 2023. ist am 17. August 1922 in Berlin geboren, wo sie am 4. März 2012 stirbt. Brigitte[12] ebenda wird am 14. Januar 1924 in Schneidemühl (heute Piła, Poland) geboren; sie verstirbt 2010 in Brasilien. Nach der Hochzeit ziehen Annemarie und Ernst in den Königsweg 11[13] Berliner Telefonbuch, Ausgabe 1921. (heute Wundtstraße).
1923 wird Dr. Wasser als Facharzt für Kinderkrankheiten approbiert und gründet in Schneidemühl[14] Vgl. Wikipedia über Schnidemühl, heute Pila, abgerufen am 15.5.2023., damals Hauptstadt der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen, eine pädiatrische Facharztpraxis. Die Praxis befindet sich laut Zeitzeugen im ersten Stock des Hauses Zeughaus- Ecke Posener Straße[15] Vgl. Beitrag von Charlotte Rink, abgerufen am 12.5.2023. (heute Maja Ecke Sródmiejska).
1936 setzen gezielte persönliche rassistische Verfolgungen gegen Dr. Wasser und seine Familie ein. Die Gestapo führt Hausdurchsuchungen durch und beschlagnahmt die Patienten-Akten. Auch die protestantische Ehefrau Annemarie Wasser wird verhört. Sie verweigert aber die Unterschrift unter ein „Protokoll“, das ihren Mann schwer belastet hätte. Daraufhin nimmt die Gestapo ihn vom 1. Juli bis 31. Oktober 1936 wegen angeblicher „Vorbereitung zum Hochverrat“ in „Schutzhaft[16] Vgl. Mapping the Lives, aao.“. Ein entfernter Verwandter und Nazi habe zwar geholfen, den Kinderarzt dort herauszuholen, berichten die Angehörigen. Dies sei aber gegen die ausdrückliche Zusage geschehen, ihn nie wieder zu kontaktieren.
Denunziation als Kampfmittel im Wettbewerb
Die Familie geht davon aus, dass der einzige andere (und „arische“) Kinderarzt Schneidemühls seinen jüdischen Konkurrenten aus dem Geschäft drängen wollte. Dieser könnte durch Denunziation dafür gesorgt haben, dass die Gestapo Ernst Wasser am 11. Mai 1938 die Berufsausübung untersagt. Die Gestapo sei „in ihrem Bemühen, meinem Großvater die Ausübung der Praxis zu verbieten, auch vom einzigen (sic!) Kinderarzt-Kollegen Schneidemühls unterstützt“ worden. Gleichwohl zeigen viele Familien Dr. Wasser weiterhin ihr Vertrauen. Sie suchten bei ihm Rat und Hilfe für ihre Kinder – nunmehr in aller Heimlichkeit „als Besuch getarnt oder spät in der Nacht, um nicht gesehen zu werden“, heißt es in der Biografie der DGKJ.
Die nächste Lebensstation Dr. Wassers ist der Aufenthalt in der jüdischen Einrichtung Landwerk Neuendorf[17] Wikipedia über das Landwerk Neuendorf, abgerufen am 12.5.2023. östlich von Berlin bei Fürstenwalde. In diesem „Hachschara“-Lager werden jüdische Jugendliche in landwirtschaftlichen Tätigkeiten ausgebildet, um sie auf das Leben in Palästina vorzubereiten. Später leben dort auch der spätere TV-Entertainer Hans Rosenthal und die Sängerin Esther Bejarano. SS überfällt die Einrichtung im November 1938 – im Zuge der Massenverhaftungen von Juden kurz nach den Pogromen vom 8. und 9. November 1938 – und verschleppt Personal und Schüler[18] Website Gutshof mit Geschichte, abgerufen am 17.6.2023. ins KZ Sachsenhausen. Ernst Wasser ist dort bis zum 20. Dezember 1938 mit der Häftlingsnummer 12246[19] Auskunft der Gedenkstätte Sachsenhausen vom 5.7.2022 auf Anfrage von dunera.de. und in der Kategorie „Jude“ im Block 40 eingesperrt.
Angesichts der Unmöglichkeit, den Beruf auszuüben und für den Lebensunterhalt seiner Familie zu sorgen und dem allgemeinen Klima der Bedrohung gegen Juden bemüht sich die Familie Wasser um die Auswanderung nach Brasilien. Annemarie und die Töchter Brigitte und Anne Rose sind keine Jüdinnen; sie bekommen Visa für Brasilien und verlassen Nazideutschland im April 1939. Ernst Ludwig Wasser ist durch den „J“-Stempel in seinem Pass als Jude gebrandmarkt und Brasilien verweigert ihm die Einreise. Waren Juden dort nicht erwünscht? Die letzte bekannte deutsche Adresse Ernst Wassers lautet Am Hegewinkel 108[20] Vgl. Mapping the Lives, aao. im damaligen Berliner Bezirk Zehlendorf.
In England, im Lager und „fünfte Kolonne“
Der Hilfsverein der deutschen Juden ermöglicht etwa 2.500 von 10.000 Antragstellern die Ausreise. So können Männer nach England entkommen, die aufgrund einer Inhaftierung im KZ und des mit der Freilassung gekoppelten Zwangs zur Ausreise als besonders gefährdet gelten. Nutzbarmachung und Betrieb des Kitchener Camp[21] Zu Hintergrund und Geschichte des Kitchener Camp vgl. Clare Ungerson „Four Thousand Lives. The Rescue of German Jewish Men to Britain, 1939“. The History Press, Cheltenham 20014/2019. bei Richborough in der Grafschaft Kent wird ausschließlich aus Spenden finanziert, die jüdische Organisationen nach der „Kristallnacht“ sammeln. Es ist als Durchgangslager gedacht – weil viele Flüchtlinge in andere Länder zu Verwandten oder Freunden weiterreisen wollen, aber Zeit und Unterkunft für die Beschaffung von Visa etc. brauchen.
Ernst Wasser trifft am 23. Mai 1939[22] Laufzettel des German Jewish Aid Committee für Dr. Wasser. in Dover ein und fährt in das rund 24 km nördlich gelegene Kitchener Camp weiter. Am 11. Oktober 1939 wird auf seiner britischen Karteikarte „Exempted C[23] Karteikarte des Home Office.‘“ vermerkt. Dr. Wasser ist damit als Flüchtling und Nazi-Opfer anerkannt und von Internierungsmaßnahmen ausgenommen.
Das Camp liegt nahe der Ausfahrt des Ärmelkanals in die Nordsee und in unmittelbarer Küstennähe. Wegen des nach der Niederlage Frankreichs befürchteten Angriffs der Nazi-Wehrmacht auf England bekommt es eine neue strategische Bedeutung für das britische Militär. Ab Mai und bis Juli 1940 werden die Internierten daher in andere Lager gebracht. Das Militär übernimmt Kitchener Camp in ausgezeichnetem Zustand.
Ernst Wasser, Heinz Dehn und 600 andere Internierte werden auf mehrere Lager auf der Isle of Man[24] Vgl. Darstellung von Heinz Dehn im Entschädigungsverfahren vor dem Landgericht Berlin, AZ. 191.0 (Entsch.) 421/74. verteilt. Dort werden die Flüchtlinge hinter Stacheldraht und in nur mit Strohsäcken „möblierten“ Wohnhäusern gefangen gehalten. Zehntausende Flüchtlinge, die als Juden oder als politische Gegner den Nazis entkommen konnten, werden jetzt in England – auch vom neuen Premierminister Winston Churchill – als potenzielle „5. Kolonne Hitlers“ beleidigt. Großbritannien will sie loswerden und schiebt rund 11.000 Männer nach Übersee ab. Für die Unterbringung von Internierten und Kriegsgefangenen werden Kanada und Australien[25] Vgl. Paul R. Bartrop, Gabrielle Eisen „The Dunera Affair“, Melbourne 1990. Kapitel 1 dokumentiert die Verhandlungen mit Australien. bezahlt.
Auf der Dunera nach Australien
Eines der fünf Deportations-Schiffe – und das einzige nach Australien, ist die HMT Dunera. Der angemietete (HMT = Hired Military Transporter) Dampfer ist als Truppentransporter für 1.167 Militärs zugelassen. Am 10. Juli 1940 wird die Dunera – mit mehr als 2.000 Internierten, 450 Kriegsgefangenen und 300 Bewachern sowie der Mannschaft völlig überladen – von Liverpool aus auf die Reise zu ihrem den Internierten verschwiegenen Ziel geschickt. Während der 57tägigen Überfahrt werden die Naziopfer von den Wachmannschaften und Offizieren systematisch ihrer Wertsachen beraubt, Gepäck und Dokumente werden zerstört. Die sanitären Verhältnisse sind unbeschreiblich. Es gibt Schikanen und antisemitische Übergriffe. Noch in der Irischen See wird die ungeschützt fahrende Dunera von einem deutschen U-Boot angegriffen; zum Glück explodieren die beiden Torpedos nicht.
Die Internierten tun ihr Möglichstes, um sich in diesem Horror nicht aufzugeben und sich gegenseitig aufzumuntern. So kümmert sich Dr. Wasser um den 16jährigen Fritz Sternhell[26] Vgl. Artikel von Christine Kanzler und Elisabeth Lebensaft in australischen Zeitungen, Juli 2021. Zit. nach „Dunera News“ Nr. 111, Seite 8. (1924 – 2020). Der Junge aus Wien war den Nazis im Mai 1939 mit einem Kindertransport entkommen. In England wird ihm der Schulbesuch verweigert. Er wird gefeuert, als er sich in einer Lederfabrik für bessere Arbeitsbedingungen einsetzt. Im Mai 1940 findet er sich hinter Stacheldraht im Lager Huyton und später auf der Isle of Man wieder. Von Kanada aus hofft er auf Kontakt zu seinen Brüdern in den USA. Jedoch wird er an der Gangway der SS Sobieski – wie ironisch – wegen Überfüllung[27] Die Sobieski, zugelassen für 940 Reisende und 260 Seeleute, legte am 7. Juli 1940 mit 1.828 Internierte in Liverpool nach Kanada ab. Auch die Duchess of York, die Arandora Star und die Ettrick waren teils um mehr als das Doppelte überbelegt. abgewiesen. Nun, auf der nicht minder überfüllten Dunera, hilft Ernst Wasser dem Jugendlichen dabei, den Horror dieser Reise zu überstehen.
Australien: Wieder hinter Stacheldraht
Den Australiern wird ein Schiff voller feindlicher Nazis angekündigt. Entsprechend abwertend werden die nach zwei Monaten der Entbehrung abgerissen aussehenden Männer von der Presse dargestelt, ohne dass die Journalisten mit auch nur einem Internierten hätten reden können. Ernst Wasser und seine Leidensgenossen werden im Lager Hay (Bundesstaat New South Wales) hinter dreifachem Stacheldraht auf Kosten Englands weggesperrt. Ab Mitte 1941 kommen die Internierten in ein Lager bei Tatura (Victoria). Auch dort steht Dr. Wasser dem jungen Mann als ein Ersatzvater zur Seite, bis Fritz Sternhell[28] Vgl. australische Akte Fritz Sternhell, NAA_ItemNumber8618440. im Juli 1942 nach England entlassen wird.
Schon im August 1940 werden die Vorgänge auf der Dunera, die vorherige Versenkung des Internierten-Schiffes Arandora Star und die Abschiebungspolitik im Unterhaus und der britischen Öffentlichkeit kritisch diskutiert. Nun nennt Churchill die Abschiebungen einen „bedauerlichen Irrtum“, bemüht sich jedoch nicht allzu intensiv um die Internierten.
Im Juni 1941 wird eine erste Gruppe Internierter freigelassen; die Männer meldeten sich für die britischen Pioniertruppen. Erst 1942 werden die australischen Internierungslager im Wesentlichen aufgelöst. Wer von den Internierten auf dem 5. Kontinent bleiben will, darf sich „freiwillig[29] Dass es den Internierten „gestattet wurde, sich freiwillig zu melden“, dokumentieren u.a. Notizen des australischen General-Adjudanten vom 29.3.1946 in NAA_ItemNumber4938132, Blatt 28, Ziffer d.“ der australischen Armee anschließen. Ausschließlich aus etwa 500 jüdischen Ex-Internierten wird die 8th Employment Company gebildet. Der Dienst mit der Waffe ist ihnen nicht gestattet. Ihr wichtigster Einsatzort ist der Bahnhof Albury, wo militärische und zivile Güter zwischen Zügen unterschiedlicher Spurweiten[30] Die benachbarten Bundesstaaten New South Wales und Victoria hatten verschiedene Spurweiten für die Eisenbahn. Albury war die größte Umladestation Australiens. umgeladen werden müssen. Ernst Wasser dient in dieser Einheit ab dem 24. September 1942. Er wird am 19. Juni 1945 im Rang eines Corporal als „medically unfit“ entlassen. Der Personalbogen[31] Entlassungsunterlagen Ernst Wasser, NAA_ItemNumber6244575, Blatt 5. attestiert ihm depressive Symptome.
Für die UNRRA in Griechenland und Deutschland
Während der Armeezeit bemüht sich Dr. Wasser vergeblich um eine Zulassung als Arzt in Australien. Die Behörden begründen ihre Verweigerung mit seinen unzureichenden Sprachkenntnissen, berichten Familienangehörige. Der United Jewish Overseas Relief Fund In Victoria sucht unterdessen Ärzte für Einsatzteams, die in Europa „Displaced Persons“ (DPs) betreuen sollen, bis diese Gestrandeten in ihre Heimatländer gebracht werden können. Freiwilligen-Teams mit Ärzten, medizinischem Personal und Sozialarbeitern sollen für die United Nations Relief and Rehabilitation Administration[32] UNRRA, gegründet 1943 von 44 Staaten kümmert sich u.a. um die „Displaced Persons“ (DP) – Menschen, die von den Nazis aus ihren Heimatländern als Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge oder Kriegsgefangene nach Deutschland verschleppt wurden. Bis zu 11 Mio. dieser Gestrandeten wurden in zeitweise mehr als 700 Lagern betreut und versorgt, bis die Rückführung in ihre Heimatländer möglich war. (UNRRA; Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung) tätig werden.
Ein UNRRA-internes Schreiben[33] UNRRA-Archiv, Dokument Nr. S-1373-0000-0019, Seite 86. vom 31. Dezember 1945 nennt Dr. Ernst Wasser als Leiter eines jüdisch-australischen Teams mit acht Mitarbeitern für den Einsatz in der Hafenstadt Volos, etwa 170 Kilometer nördlich von Athen. Auch sein Stellvertreter und Organisationschef Theodor Wolff[34] Vgl. Laufzettel Theodor Wolff, NAA_ItemNumber9907457. war über das Kitchener Camp und mit der Dunera nach Australien gekommen. Aus Unterlagen des UNRRA-Archives geht hervor, dass Ernst Wasser zumindest um Teile der ihm und den anderen Freiwilligen vertraglich zugesagten Bezahlung und Leistungen und um die Gleichbehandlung[35] Vgl. UNRRA-Archiv, Dokumente Nr. S-1174-0000-0179-0001, S-1267-0000-0352, S-1381-0000-0041, S-1523-0000-0025. mit anderen Gruppen kämpfen muss. Einer Gesprächsnotiz der UNRRA[36] Vgl. UNRRA-Archiv, Dokument Nr. S-1381-0000-0041, Seite 56. vom 13. Juni 1946 ist zu entnehmen, dass die Gruppe Dr. Wasser in Australien eigentlich für den Einsatz in Deutschland vorbereitet wurde, nicht jedoch für die anders geartete Arbeit in Griechenland. Das Team sei mit dieser Situation nicht zufrieden. In einem Schreiben an vorgesetzte Stellen droht er am 8. Mai 1946 gar, sein Team werde bei ausbleibender Statusklärung[37] Schreiben Dr. Wasser vom 8.5.1946, UNRRA-Archiv, Dokument Nr. S-1381-0000-0041, Seite 21. „die Arbeit in dieser Region verweigern und nach Athen zurückkehren“. Er habe die australischen Entsender gebeten, Einsatzmöglichkeiten in Deutschland zu recherchieren. Der UNRRA-Leiter für Griechenland bedauert, das Team zu verlieren, will aber einer Versetzung der Gruppe nach Deutschland nicht im Wege stehen.
Dr. Wasser und sechs Mitglieder seiner Gruppe reisen am 3. September 1946 zunächst nach Paris und am 23. September 1946 weiter nach Heidelberg[38] Vgl. Reisekostenabrechnung, UNRRA-Archiv, Dokument Nr. S-1523-0000-0025, Seiten 79f.. Die australische Gruppe wird nun als UNRRA-Team 160 geführt und im DP-Lager Pocking[39] Jüdische DP-Lager in Deutschland, abgerufen am 8.5.2023. südlich von Passau eingesetzt. Mit über 7.600 Menschen belegt befindet sich dieses zweitgrößte DP-Lager in Deutschland auf dem Gelände des ehemaligen Außenlagers Kirchham des KZs Flossenbürg. Dass der Einsatz des Teams 160 im März 1947 beendet ist, geht aus einem weiteren UNRRA-internen Schreiben[40] Vgl. UNRRA-Archiv, Dokumente Nr. S-1523-0000-0025, Seite 104 und S-1381-0000-0041, Seite 10. hervor. Die UNRRA-Dokumente zur Gruppe Dr. Wasser vermitteln jedoch nichts über die konkreten Aufgaben der Gruppe und die Bewertung ihrer Leistung.
Als einer der beiden Deutschen im Team bleibt Dr. Wasser in Deutschland. Nach Angaben seiner Familie ist er ab Mitte 1947 für den Medical Director for Germany der US-Militärregierung als Leiter des Kindergesundheitswesens tätig. Seine Aufgabe besteht in der Anleitung der DP-Lager und der Kinderärzte, der Beratung der im Bereich Kinderbetreuung Beschäftigten und der Kommunikation zwischen den deutschen Ärzten und der US-Militärregierung.
Nach 10 Jahren Trennung zur Familie nach Brasilien
Parallel bemüht sich Ernst Wasser erneut um eine Einreise nach Brasilien. Im Oktober 1948 bekommt er endlich die Genehmigung[41] Militärmission Brasiliens in Deutschland, Aufenthaltsgenehmigung für Ernst Wasser vom 14.10.1948. für einen permanenten Aufenthalt. Nach fast zehnjähriger Trennung reist er zum Wiedersehen mit seiner Frau Annemarie und den Töchtern Brigitte und Anne Rose. Sie leben in dem von deutschen Auswanderern gegründeten Ort Rolandia im Bundesstaat Paraná, knapp 600 Autokilometer westlich von Sao Paulo. Annemarie Wasser arbeitet dort als Angestellte in der Haus- und Landwirtschaft.
Und wieder nach Berlin
1958 kehrt die Familie nach Deutschland zurück. Dr. Wasser, schon im Rentenalter, eröffnet im Westberliner Ortsteil Onkel Toms Hütte (im heutigen Bezirk Steglitz Zehlendorf) im Reihenhaus Am Fuchspass Nummer 4 seine Kinderarztpraxis, die er bis zu seinem Ruhestand 1965 führt. Außerdem unterstützt er das Pastor-Braune-Haus[42] Homepage des Pastor-Braune-Hauses, abgerufen am 15.5.2023., ein Wohnheim für behinderte Kinder im Ortsteil Lankwitz. Das Westberliner Telefonbuch nennt ab 1967 eine Wohnanschrift im Bezirk Schöneberg.
Dr. Ernst Ludwig Wasser verstirbt am 4. Oktober 1969 in Berlin. Seine Ehefrau Annemarie stirbt am 28. August 1982.
Dr. Wassers Schicksal ist nur ein Beispiel für die katastrophalen Verluste, die die nationalsozialistische Verfolgung jüdischer Intellektueller in Deutschland verursachte. „Über die Hälfte der 1933 kinderärztlich tätigen Ärztinnen und Ärzte waren betroffen; das Regime nahm ihnen Beruf, Titel, Lebenswelt, Würde und nicht wenigen das Leben“, schreibt der Medizinhistoriker Prof. Dr. phil. Eduard Seidler[43] Eduard Seidler, Vorwort zum Buch „Jüdische Kinderärzte 1933 – 1945. Entrechtet – geflohen -ermordet“, Freiburg 2014, abgerufen am 23.4.2023.. Er veröffentlichte im Jahr 2000 die Dokumentation „Jüdische Kinderärzte 1933-1945. Entrechtet – geflohen – ermordet“. Eine Online-Datenbank[44] Datenbank der DGKJ mit rund 800 Namen verfolgter jüdirscher Kinderäezte. mit Informationen über die verfolgten und ermordeten Kinderärzte führt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Auch der dortige Eintrag und die Information, dass Dr. Wasser – wie der Vater des Autors – Dunera Boy war, regten diesen Beitrag an. Die Recherche in dieser Datenbank führte zu einem anderen jüdischen Kinderarzt und Dunera-Boy: Auch Dr. Hans Frankenstein aus Görlitz kam über das Kitchener Camp und mit der Dunera in die australischen Internierungslager.
Hinweis: Soweit Quellen nicht ausdrücklich ausgewiesen sind beruht dieser Beitrag auf der Biografie Dr. Wassers des o.g. DGKJ-Projektes.
Fußnoten
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- [1]↑Geburtseintrag Nr. 84 vom 28.3.1893.
- [2]↑Standesamt Charlottenburg, Sterbeeintrag Nr. 563 vom 21.2.1920.
- [3]↑Heute ein Ortsteil von Neustadt an der Orla, Thüringen.
- [4]↑Standesamt Charlottenburg, Sterbeeintrag Nr. 1872 vom 30.9.1914.
- [5]↑Geburtseintrag Nr. 164 vom 4.7.1890.
- [6]↑Vgl. Mapping the Lives, abgerufen am 12.5.2023.
- [7]↑Vgl. National Archives of Australia (NAA), NAA_ItemNumber9907366.
- [8]↑Vgl. Biografie Ernst Wasser, Website der DGKJ, abgerufen am 25.2.2023. Diese Quelle wird im Weiteren nicht gesondert ausgewiesen.
- [9]↑Berliner Adreßbuch, Ausgabe 1920.
- [10]↑Heiratseintrag des Standesamtes Königstein/Taunus Nr. 21 vom 15.9.1921.
- [11]↑Vgl. Angaben von www.ancestry.de, abgerufen am 18. April 2023.
- [12]↑ebenda
- [13]↑Berliner Telefonbuch, Ausgabe 1921.
- [14]↑Vgl. Wikipedia über Schnidemühl, heute Pila, abgerufen am 15.5.2023.
- [15]↑Vgl. Beitrag von Charlotte Rink, abgerufen am 12.5.2023.
- [16]↑Vgl. Mapping the Lives, aao.
- [17]↑Wikipedia über das Landwerk Neuendorf, abgerufen am 12.5.2023.
- [18]↑Website Gutshof mit Geschichte, abgerufen am 17.6.2023.
- [19]↑Auskunft der Gedenkstätte Sachsenhausen vom 5.7.2022 auf Anfrage von dunera.de.
- [20]↑Vgl. Mapping the Lives, aao.
- [21]↑Zu Hintergrund und Geschichte des Kitchener Camp vgl. Clare Ungerson „Four Thousand Lives. The Rescue of German Jewish Men to Britain, 1939“. The History Press, Cheltenham 20014/2019.
- [22]↑Laufzettel des German Jewish Aid Committee für Dr. Wasser.
- [23]↑Karteikarte des Home Office.
- [24]↑Vgl. Darstellung von Heinz Dehn im Entschädigungsverfahren vor dem Landgericht Berlin, AZ. 191.0 (Entsch.) 421/74.
- [25]↑Vgl. Paul R. Bartrop, Gabrielle Eisen „The Dunera Affair“, Melbourne 1990. Kapitel 1 dokumentiert die Verhandlungen mit Australien.
- [26]↑Vgl. Artikel von Christine Kanzler und Elisabeth Lebensaft in australischen Zeitungen, Juli 2021. Zit. nach „Dunera News“ Nr. 111, Seite 8.
- [27]↑Die Sobieski, zugelassen für 940 Reisende und 260 Seeleute, legte am 7. Juli 1940 mit 1.828 Internierte in Liverpool nach Kanada ab. Auch die Duchess of York, die Arandora Star und die Ettrick waren teils um mehr als das Doppelte überbelegt.
- [28]↑Vgl. australische Akte Fritz Sternhell, NAA_ItemNumber8618440.
- [29]↑Dass es den Internierten „gestattet wurde, sich freiwillig zu melden“, dokumentieren u.a. Notizen des australischen General-Adjudanten vom 29.3.1946 in NAA_ItemNumber4938132, Blatt 28, Ziffer d.
- [30]↑Die benachbarten Bundesstaaten New South Wales und Victoria hatten verschiedene Spurweiten für die Eisenbahn. Albury war die größte Umladestation Australiens.
- [31]↑Entlassungsunterlagen Ernst Wasser, NAA_ItemNumber6244575, Blatt 5.
- [32]↑UNRRA, gegründet 1943 von 44 Staaten kümmert sich u.a. um die „Displaced Persons“ (DP) – Menschen, die von den Nazis aus ihren Heimatländern als Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge oder Kriegsgefangene nach Deutschland verschleppt wurden. Bis zu 11 Mio. dieser Gestrandeten wurden in zeitweise mehr als 700 Lagern betreut und versorgt, bis die Rückführung in ihre Heimatländer möglich war.
- [33]↑UNRRA-Archiv, Dokument Nr. S-1373-0000-0019, Seite 86.
- [34]↑Vgl. Laufzettel Theodor Wolff, NAA_ItemNumber9907457.
- [35]↑Vgl. UNRRA-Archiv, Dokumente Nr. S-1174-0000-0179-0001, S-1267-0000-0352, S-1381-0000-0041, S-1523-0000-0025.
- [36]↑Vgl. UNRRA-Archiv, Dokument Nr. S-1381-0000-0041, Seite 56.
- [37]↑Schreiben Dr. Wasser vom 8.5.1946, UNRRA-Archiv, Dokument Nr. S-1381-0000-0041, Seite 21.
- [38]↑Vgl. Reisekostenabrechnung, UNRRA-Archiv, Dokument Nr. S-1523-0000-0025, Seiten 79f.
- [39]↑Jüdische DP-Lager in Deutschland, abgerufen am 8.5.2023.
- [40]↑Vgl. UNRRA-Archiv, Dokumente Nr. S-1523-0000-0025, Seite 104 und S-1381-0000-0041, Seite 10.
- [41]↑Militärmission Brasiliens in Deutschland, Aufenthaltsgenehmigung für Ernst Wasser vom 14.10.1948.
- [42]↑Homepage des Pastor-Braune-Hauses, abgerufen am 15.5.2023.
- [43]↑Eduard Seidler, Vorwort zum Buch „Jüdische Kinderärzte 1933 – 1945. Entrechtet – geflohen -ermordet“, Freiburg 2014, abgerufen am 23.4.2023.
- [44]↑Datenbank der DGKJ mit rund 800 Namen verfolgter jüdirscher Kinderäezte.