Ernst Friedlich, in Australien als Ernest Fry eingebürgert, gehörte weder zu den Dunera Boys noch zu den Internierten, die mit der Queen Mary von den Briten nach Australien deportiert wurden. Der autobiografische Text des guten Freundes der Familie Dehn Franz Lebrecht und die australische Heiratsurkunde von Franz und Hildegard Lebrecht veranlassten zu Nachforschungen. Denn Ernest Fry war einer ihrer Trauzeugen. Bei Recherchen stieß ich auf einen längeren biografischen Beitrag des sehr lobenswerten „Flurgespräche[1] Homepage Flurgespräche.“-Projektes. Erschütternd ist nicht nur das Leiden des Zahnarztes Dr. Friedlich in drei Konzentrationslagern. Genauso erschütternd sind die Schikanen, mit denen deutsche Behörden seine Wiedergutmachungs-Anträge behandelten. Das zeigt beispielhaft, wie eine finanzielle „Wiedergutmachung“ für sein Leiden unter den Nazis systematisch verhindert oder die Höhe der auszuzahlenden Gelder zu drücken versucht wurde.
Peter Dehn, Januar 2024.
Von den Nazis gefoltert, zerrieben in den Mühlen der Wiedergutmachungsbürokratie
Dem Zahnarzt Ernst Friedlich (28. Oktober 1910 – 16. September 1980), wird 1933 das Doktordiplom verweigert, weil er Jude war. Er nahm das Angebot einer US-Institution an, in der Sowjetunion zu arbeiten. Dort veranlasste der Geheimdienst GPU seinen Rauswurf. Das führt ihn direkt in die Fänge der Gestapo Bielefeld, die am 3.9.1936 die „Schutzhaft[2] Die sog. Schutzhaft basiert auf der Aufhebung demokratischer Grundrechte durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, die Paul von Hindenburg am 28.2.1933 in Kraft setzte. Damit wurde es Behörden möglich, politische Gegner der Nazis ohne Urteil einzusperren. Vgl. Wikipedia, abgerufen am 30.6.2023.“ anordnet und ihn später ins Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin verschleppt. Dort bekommt er am 12. Februar 1937 die Häftlingsnummer 493[3] Mail der Gedenkstätte Sachsenhausen an Peter Dehn.. Während seines Aufenthaltes dort wird er von SS-Bewachern durch Bajonettstiche schwer verletzt. Die nächste Station seines Leidenswegs ist das KZ Dachau, wo er die Häftlingsnummer 11473[4] Vgl. Ernst Friedlich – Akten des Arolsen-Archivs, abgerufen am 28.6.2023. bekam. Die Biografie „Hans Litten – Anwalt gegen Hitler“ vermerkt, dass die „Politischen“ des Dachauer Blocks 6[5] Knut Bergbauer u.a. „Hans Litten – Anwalt gegen Hitler“. Göttingen 2022, ISBN 978-3-8353-5159-2, S. 300 in alle Welt zerstreut werden: „Friedlich, Gottlieb und Lebrecht in Australien“. Die drei kennen sich also bereits aus Dachau und treffen dort oder in Buchenwald vielleicht erstmals auf Heinz Dehn.
Am 23. September 1938 werden Ernst Friedlich, Leon Gottlieb und Franz Lebrecht (Heinz Dehn schon am Vortag) ins KZ Buchenwald bei Weimar überstellt, wo Friedlich unter Nummer 8101 geführt wird und zusamen mit Lebrecht im Block 23 untergebracht wird. Aus dem KZ entlassen wird Ernst Friedlich am 11. Februar 1939. Wie andere jüdische Häftlinge[6] Vgl. Arolsen Archiv, aao. zu der Zeit wird er gezwungen, schnellstens aus Deutschland zu verschwinden.
In Singapur begegnen Ernst und Margarethe Friedlich erneut Franz Lebrecht, der im Juli 1939 dort eintrifft. Sie geben ihm Quartier für die erste Zeit und teilen ihre sehr kärglichen Lebensmittel. Auch Leon Gottlieb schafft es nach Singapur und dürfte den beiden dort begegnet sein. Er und Lebrecht werden Anfang September 1940 von den Briten interniert und nach Australien hinter Gitter gebracht.
Ernst Friedlich und seine Frau werden von den Briten erst am 25. Januar 1941 in Singapur interniert. Sie treffen am 8. Februar 1941 mit der Boissevain in Sydney ein und werden sofort in ein Interniertenlager[7] Vgl. National Archives of Australia (NAA), digitalisierte Akten zu Ernst und Margarete Friedlich (NAA Item-Numbers 6555104, 8615442, 9904309, 8615443, 9904310). gebracht. Hinter dreifachem Stacheldraht des Camps 3 bei Tatura (Bundesstaat Victoria) treffen sie ihre Freunde Franz und Leon und andere Singapur-Internierte wieder. Der Preis für einen dauerhaften Aufenthalt Down Under ist der Dienst in der australischen Armee. Wie viele Dunera Boys wird er im April 1942 zur Arbeitseinheit 8th Employment Company eingezogen; jedoch schon im Oktober 1942 wird er wegen des Verdachts einer Tuberkulose-Erkrankung[8] Vgl. Armeeakte Ernst Friedlich, NAA_ItemNumber6255104. entlassen.
Ernest Fry, nun australischer Bürger, nimmt in Melbourne ein zweites Medizinstudium auf sich. Die Universität Melbourne verzeichnet seinen Namen in einer Liste der 1947 Graduierten[9] Fry ist als 1947er Absolvent in der Namensliste für Alumni-Treffen der Uni Melbourne eingetragen, abgerufen am 30.6.2023.. Laut Wählerverzeichnis wohnt der „med. prac. (Praktischer Arzt) 1949 mit seiner zweiten Ehefrau Karla Martha im Ortsteil Kingsville, westlich des Zentrums von Melbourne. Mitte Januar 1955 lässt er sich im Melbourner Vorort Windsor, als „med. prac.[10] In der Melbourner Tageszeitung „The Argus“ inseriert Fry am 15. und 17.1.1955 die Eröffnung seiner Praxis.“ (Praktischer Arzt) nieder. Mathel Gottlieb-Drucker erinnert sich an Dr. Fry, der bis zur Aufgabe der Praxis ihr Hausarzt war.
Ernest Fry stirbt 1980, seine zweite Frau Karla Martha war bereits 1960 verstorben. Er hinterließ seine Söhne David und Peter. An seinem Geburtsort Bünde/Westfalen erinnert ein Stolperstein an ihn.
Nachtrag: Ein Erlebnis von David Fry
Viele jüdische Holocaust-Überlebende machten – wie Ernest Fry – keine besonders positiven Erfahrungen mit den deutschen Behörden, die ihre Anträge auf Wiedergutmachung und Entschädigung bearbeiteten. Das findet sich auch in mehreren Beiträgen auf dieser Website wieder. David Fry, einer der beiden Söhne von Ernst Friedlich, gab uns einen kurzen Bericht[11] David Fry, Mail an Peter Dehn vom 15.3.2024. über seine eigenen Erlebnisse, den wir nicht vorenthalten wollen.
Nachdem mein Vater zu gebrechlich geworden war, um zum deutschen Konsulat zu fahren, was er, glaube ich, zweimal im Jahr tun musste, um „zu beweisen, dass ich lebe“, wie er zu sagen pflegte, und um weiterhin seine monatliche Rente zu erhalten, übernahm ich diese Aufgabe für ihn in den letzten Jahren vor seinem Tod. Alles, was ich tun musste, war, dem Konsul eine handschriftliche Notiz zu überreichen, die mein Vater zu Hause unterschrieben hatte.
Nach seinem Tod und innerhalb von zwei Wochen nach diesem Datum hielt ich es für das Beste, persönlich beim Konsulat vorstellig zu werden, um die Auszahlung seiner Rente auf sein Konto zu stoppen. Es gibt hier zwei Formen der Sterbeurkunde – das kürzere Auszugsformular und die umfassendere Vollurkunde. Ich nahm das kürzere Formular mit und gab es der Sekretärin. Sie gab es dem Konsul und er kam aus seinem Büro.
Ich hatte erwartet, dass er sagen würde: „Mein herzliches Beileid für Ihren Verlust“. Stattdessen sagte er: „Das ist nur die Kurzform – wo ist die vollständige Bescheinigung?“ Ich glaube, ich sagte so etwas wie „Rufen Sie im Krankenhaus an, wenn Sie Zweifel haben, dass er gestorben ist“.
Hinweise: Unser herzlicher Dank gilt David Fry in Melbourne, der uns mit seinem Rat unterstützte, uns einige Fotos überließ und die Veröffentlichung seines Berichts gestattete.
Großer Dank gilt auch Herrn Otto Gertzen. Der Autor des „Flurgespräche“-Artikels über Ernst Friedlich und weiterer Beiträge des Projektes, Jahrgang 1948, war 42 Jahre als Geschichtslehrer tätig, zuletzt an der Friedensschule Hamm (Gesamtschule). Nach seiner Pensionierung 2013 nahm er aktiv am „Studium im Alter“ der WWU Münster teil, in dessen Rahmen die „Flurgespräche“ entstanden. Schon 1977 hatte er das Konzept einer 12stündigen Unterrichtseinheit „Antifaschistischer Widerstand“ veröffentlicht.
Die Texte der „Flurgespräche“ erschienen 2018 als Buch (ISBN 978-3402158906).
Fußnoten
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- [1]↑Homepage Flurgespräche.
- [2]↑Die sog. Schutzhaft basiert auf der Aufhebung demokratischer Grundrechte durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, die Paul von Hindenburg am 28.2.1933 in Kraft setzte. Damit wurde es Behörden möglich, politische Gegner der Nazis ohne Urteil einzusperren. Vgl. Wikipedia, abgerufen am 30.6.2023.
- [3]↑Mail der Gedenkstätte Sachsenhausen an Peter Dehn.
- [4]↑Vgl. Ernst Friedlich – Akten des Arolsen-Archivs, abgerufen am 28.6.2023.
- [5]↑Knut Bergbauer u.a. „Hans Litten – Anwalt gegen Hitler“. Göttingen 2022, ISBN 978-3-8353-5159-2, S. 300
- [6]↑Vgl. Arolsen Archiv, aao.
- [7]↑Vgl. National Archives of Australia (NAA), digitalisierte Akten zu Ernst und Margarete Friedlich (NAA Item-Numbers 6555104, 8615442, 9904309, 8615443, 9904310).
- [8]↑Vgl. Armeeakte Ernst Friedlich, NAA_ItemNumber6255104.
- [9]↑Fry ist als 1947er Absolvent in der Namensliste für Alumni-Treffen der Uni Melbourne eingetragen, abgerufen am 30.6.2023.
- [10]↑In der Melbourner Tageszeitung „The Argus“ inseriert Fry am 15. und 17.1.1955 die Eröffnung seiner Praxis.
- [11]↑David Fry, Mail an Peter Dehn vom 15.3.2024.