Erstmals liegen vollständige Namenslisten des Deportationsschiffs vor
Die Arandora Star war das zweite von fünf Schiffen, mit denen die britische Regierung im Juni und Juli 1940 tausende Internierte und Kriegsgefangene nach Übersee schaffte. Das Schiff hatte am 1. Juli 1940 mit 470 Internierten aus Deutschland und Österreich, 707 italienischen Internierten, 255 Wachsoldaten und 182 Besatzungsmitgliedern an Bord seine Reise von Liverpool zum kanadischen Hafen St. John’s (Neufundland) begonnen.
„Das Schiff ist ohne Zweifel ein Luxusschiff, aber mit doppelt so vielen Menschen in jeder Kabine wie es Betten gibt hört der Luxus schon auf“, erinnerte sich der jüdische Flüchtling Rainer Radok[1] Rainer Radok, „Von Königsberg nach Melbourne“, Kapitell 11 Seite 16.. Schon am nächsten Tag um 6.15 Uhr und rund 75 Seemeilen westlich des Bloody Foreland im Nordwesten Irlands wurde die als Alleinfahrer ungeschützte Arandora Star vom U-Boot U-47 unter Befehl des Nazi-„Seehelden“ Günter Prien gesichtet und versenkt. „Prien war ganz ausser sich vor Freude“, berichtete später der 1. Wachoffizier Hans-Werner Kraus[2] Nachlass des Marineschriftstellers Jochen Brennecke, Interview mit Hans Werner Kraus o.J., Bundesarchiv N852-32..
Divergierende Angaben zu den Namen der Überlebenden und Opfer der Versenkung der Arandora Star und zu den entsprechenden Zahlen haben immer wieder zu Irritationen geführt. Alfonso Pacitti, ein Nachfahre italienischer Deportierter, hat nun Namen und Kurzinformationen zu 1.614 Männern, die an dieser Unglücksreise teilgenommen hatten, in langer ehrenamtlicher Arbeit aus verschiedenen Quellen zusammengetragen, die Angaben abgeglichen und überprüft. Im November 2025 veröffentlichte er auf seiner Website „Arandora Star 1940 Manifest“ die so entstandenen Namenslisten der vier Gruppen auf dem Schiff.
Nach diesem aktuellen Stand der Forschungen wurden 743 Männer Opfer der Torpedos. Was die 470 Deutschen und Österreicher betrifft, von denen 150 auf See blieben, so ist eine britische regierungsamtliche Falschinformation zurückzuweisen: Ronald Cross[3] Protokoll der Fragestunde im britischen Unterhaus vom 9. Juli 1940, abgerufen am 20.8.2023., britischer Minister of Shipping, beeilte sich, den Abgeordneten des Unterhauses schon am 9. Juli 1940 (also am Vortag der Abreise der Dunera) zu versichern, „dass alle Deutschen an Bord Sympathisanten der Nazis waren und dass keiner von ihnen in dieses Land als Flüchtling kam. Keiner hatte die Kategorie ‚B‘ oder ‚C‘ oder war als befreundeter Ausländer anerkannt.“ So wusch Churchills Regierung sich die Hände in Unschuld.
Die Tatsachen sprechen jedoch eine andere Sprache. Von den 470 Deutschen und Österreichern waren mindestens 79 Opfer der Versenkung und mehr als 75 Überlebende nachweislich jüdische Flüchtlinge oder mussten sich der politischen Verfolgung der Nazis durch die Flucht entziehen.
Beispielhaft dafür ist der ehemalige kommunistische Reichstagsabgeordnete Karl Olbrysch, der ebenso wie seine Frau Charlotte mit „A“ als Nazi etikettiert wurde und so unter britischer „Obhut“ Opfer der Nazis wurde. Auf der Arandora Star hatte er sich die Kabine mit Olbrysch und zwei seiner Genossen geteilt, berichtete der ebenfalls bewußt falsch in die Kategorie „A“ eingestufte jüdische Kommunist aus Hamburg und Dunera Boy Ludwig Baruch[4] "Ludwig Baruch - Diary Exerpts" in Dunera News Nr. 39 (Juni 1997), Seite 8, abgerufen am 20.5.2024.. Zahlreiche andere Beispiele waren den britischen Behörden allein durch die Übernahme des diffamierenden Namenszusatzes „Israel“ für Juden aus den Ausweisen des Nazireiches in die eigenen Akten genau bekannt.
Solche systematischen falschen und beleidigenden Einstufungen „spiegelten zumindest die Meinung der sozialen Schicht, aus der diese King’s Counsels (Berater des Königs) stammten“, wider, merkte der nach Canada deportierte Eric Koch[5] Zit. n. Eric Koch, „Deemed Suspect. A Wartime Blunder“, Toronto 1980, Seite 9/10. an. Koch fragte außerdem: „Warum bekamen 13.000 ‚Befreundete aus feindlichem Ausland‘ (friendly enemy aliens) in der Kategorie C keinen Stempel als Flüchtlinge vor der Nazi-Verfolgung? Wer waren sie? Warum wurde eine signifikante Zahl wirklicher Flüchtlinge in die Kategorie A eingestuft?“
Damit wird klar, dass viele Einstufungen der britischen Tribunals antisemitischen Charakter hatten oder darauf zielten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Vertreter von Emigrantengruppen usw. hinter Gittern zu bringen, um diese Nazigegner aus dem öffentlichen Leben auszuschließen.
Von November 1939 bis Januar 1940 stuften britische „Tribunals“ [Massenab1] 66.000 Ausländer ein. Mit „A“ wurden 569 als Nazis und Faschisten kategorisiert, die sofort interniert werden sollten. Kategorie „B“ bekamen suspekte Personen; sie durften sich nur eingeschränkt bewegen und keine Fahrräder oder Fotoapparate besitzen. Mehr als 64.000 wurden mit der Einstufung „C“ von der Internierung ausgenommen. Jedoch wurden nur 51.200 als „Refugees from Nazi oppression“ bezeichnet.
Wie inzwischen bekannt ist, wurden viele Juden und erwiesene Nazigegner mit „A“- oder „B“-Einstufungen mit ihren Peinigern auf eine Stufe gestellt und zur Inhaftierung und späteren Deportation nach Übersee freigegeben.
An der St Peter’s Italian Church in London erinnern dieses Mahnrelief und eine Namensliste an die italienischen Opfer.. Foto: Wikipedia, Martin Addison (CC BY-SA 2.0). Foto oben: Blue Star Line org.
„Das Schiff war voller Menschen, die nicht auf diesem Schiff hätten sein dürfen. Es sollte eigentlich für eingefleischte Nazis sein – aber das war es nicht“, so der britische Historiker Simon Parkin[6] Zit.n. Amy Spiro „They fled persecution in Nazi Germany. Then the British put the behind barbed wire“. Times of Israel am 5.11.2022, abgerufen am 15.11.2025. im Rückblick auf den Skandal. „Die britische Regierung hat den falschen Leuten der Krieg erklärt“, hatte der britische Sozialforscher Francois Lafitte[7] F. Lafitte veröffentlichte schon Ende 1940 das erste Sachbuch mit 256 Seiten The Interment of Aliens. schon im September 1940 bescheinigt.
Das britische Kriegskabinett[8] Protokoll des War Cabinet vom 3.7.1940, The National Archives CAB-65-8-4 Blatt 28. zeigte sich von der Versenkung der Arandora Star gänzlich unbeeindruckt. Schon am Tag nach der Versenkung, dem 3. Juli 1940, ordnete Churcill an, das nächste Interniertenschiff nach Kanada zu schicken. Ausdrücklich festgelegt wurde, die Ettrick, ein Schwesterschiff der Dunera, wiederum nicht in einen Convoy einzugliedern, sondern ohne begleitendes Kriegsschiff auf den Weg durch ein von deutschen U-Booten belagertes Seegebiet zu schicken. Ebenso ausdrücklich wurde darauf verzichtet, auf diplomatischem Wege mitzuteilen, dass es sich um einen Gefangenentransport handelt. Dieser Grundsatz galt für alle fünf Interniertentransporte.
Hinweis: Die Artikel mit Informationen über die Arandora Star und die auf diesem Schiff Deportierten wurden unter Berücksichtigung der aktuellen Recherche-Ergebnisse von Alfonso Pacitti überarbeitet.
Fußnoten
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- [1]↑Rainer Radok, „Von Königsberg nach Melbourne“, Kapitell 11 Seite 16.
- [2]↑Nachlass des Marineschriftstellers Jochen Brennecke, Interview mit Hans Werner Kraus o.J., Bundesarchiv N852-32.
- [3]↑Protokoll der Fragestunde im britischen Unterhaus vom 9. Juli 1940, abgerufen am 20.8.2023.
- [4]↑"Ludwig Baruch - Diary Exerpts" in Dunera News Nr. 39 (Juni 1997), Seite 8, abgerufen am 20.5.2024.
- [5]↑Zit. n. Eric Koch, „Deemed Suspect. A Wartime Blunder“, Toronto 1980, Seite 9/10.
- [6]↑Zit.n. Amy Spiro „They fled persecution in Nazi Germany. Then the British put the behind barbed wire“. Times of Israel am 5.11.2022, abgerufen am 15.11.2025.
- [7]↑F. Lafitte veröffentlichte schon Ende 1940 das erste Sachbuch mit 256 Seiten The Interment of Aliens.
- [8]↑Protokoll des War Cabinet vom 3.7.1940, The National Archives CAB-65-8-4 Blatt 28.