Dunera

Britische Deportationen
Teil 2

Unter Winston Churchills politischer Linie „Collar the lot!“ wurde in Großbritannien ab Mai 1940 die Internierung zehntausender Deutscher und Österreicher und die Massenabschiebung von Internierten wie auch Kriegsgefangenen betrieben. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die fünf Transporte, mit denen im Juni und Juli 1940 etwa 10.000 Männer nach Kanada und Australien deportiert wurden. Der Tod von 800 Menschen durch die Versenkung der Arandora Star löste öffentliche und eine heftige parlamentarische Kritik an der Abschiebepolitik aus und sorgte für deren Ende.

Peter Dehn im Januar 2024.

10.000 Mann …

In großer Eile wurden ab Mai 1940 Zehntausende unerwünschte „enemy aliens“ verhaftet und in verschiedene Lager weggesperrt. Dass die meisten von ihnen einen offiziellen Status als Freunde Großbritannien waren und gehofft hatten, dort der Verfolgung durch die Nazis entronnen zu sein, interessierte Premier Winston Churchill und seine Minister nicht. Ihre politischen Entscheidungen folgten einer antisemitischen und ausländerfeindlichen Kampagne der rechtspopulistischen Presse, die von Politikern der Konservativen aufgegriffen wurden.

In gleicher Eile wurde mit Kanada und Australien die Aufnahme von Zivilinternierten und Kriegsgefangenen aus Deutschland, Österreich und Italien ausgehandelt. Den Behörden und Medien beider Aufnahmeländer wurde mitgeteilt, sie hätten Kriegsgefangene oder Internierte der Kategorien „A“ oder „B“ – also keinesfalls Nazigegner der Kategorie „C“ – unterzubringen. Zwischen dem 24. Juni und dem 10. Juli 1940 wurden mehr als 10.000 Männer in fünf Schiffen auf den Abschiebe-Weg nach Übersee gebracht. Nur bis zu 2.500 waren zuvor tatsächlich in die Kategorie „A“ eingestuft worden; jedoch hatte sich das in nur 369 nach Prüfungen durch Tribunale ergeben. Und nicht alle mit „A“ oder „B“ etikettierten Menschen waren nachgewiesene Nazis oder deren Sympathisanten, sondern Flüchtlinge – Juden und Widerständler.

… auf 5 Schiffen nach Übersee

1 – Duchess of York

Die Duchess of York[1] Wikipedia über die Duchess of York, abgerufen am 1.9.2023. war 1929 für die Canadian Steamship Company vom Stapel gelaufen. 1939 wurde das 183 Meter lange 20.000 BRT-Schiff von der britischen Marine requiriert. Es war für eine Geschwindigkeit von bis zu 18 Knoten (33 km/h[2] 1 Knoten entspricht einer Seemeile bzw. 1852 Meter Geschwindigkeit pro Stunde.) konzipiert und im zivilen Einsatz für 1.570 Passagiere in drei Klassen zugelassen. Die offizielle Kapazität als Truppentransporter ist nicht bekannt. 1943 wurde sie vor Spanien versenkt. Mit ihrem älteren Schwesterschiff Duchess of Atholl absolvierten u.a. Ida Dehn und die Familie Nussbaum im Januar 1939 die erste Übersee-Etappe ihrer Flucht nach Australien. Im Oktober 1942 wurde auch dieses Schiff mit 534 Passagieren, 273 Seeleuten und 25 Kanonieren für die Bewaffnung an Bord versenkt. 827 Menschen wurden von einem anderen britischen Schiff gerettet.

Die Duchess of York legte am 24. Juni 1940 in Greenock (Schottland) in Richtung Kanada ab und erreichte Quebec am 26. Juni. Die Zahl der Internierten und Gefangenen[3] Vgl. Peter und Leni Gilllman „‘Collar the Lot!‘ How Britain Interned And Expelled its Wartime Refugees“, London 1980, Seite 169. wird mit 2.602 angegeben. Darunter seien 500 Kriegsgefangene und 2.100 Zivilinternierte[4] Michael Hallerberg, Dissertation „Darstellung und Wahrnehmung von deutschen Kriegsgefangenen in Kanada, 1940-46“ an der Uni Osnabrück, 2019, Seite 44. gewesen. Im Vergleich mit der zulässigen Personenzahl ist auch die nicht überlieferte Zahl der Wachmannschaften und Besatzungsmitglieder zu berücksichtigen; es dürften insgesamt etwa 3.000 Menschen zuzüglich der Schiffsmannschaft an Bord gewesen sein.

Laut einem Bericht wurden 150 kriegsgefangene Angehörige der Luftwaffe bevorzugt in Kabinen der 1. und 2. Klasse untergebracht, die täglich von Stewarts gereinigt worden sein sollen. Diese Bevorzugung sei veranlasst worden, weil die britische Regierung Racheakte der Nazis[5] Gillman/Gillman, S. 170. an Briten in deren Gewalt befürchtete. Diese Kriegsgefangenen wurden auch zu einem exklusiven Kapitänsdinner[6] Eva Colmers, Interview mit dem Kriegsgefangenen Fritz Skerries, zit.n. Hallerberg S. 64. eingeladen.

2.100 Internierte, ob Juden, Flüchtlinge, andere Zivilisten oder Nazis, wurden hingegen in überfüllten Massenquartieren[7] Riedel „Hinter kanadischem Stacheldraht“ zit.n. Hallerberg aao., S. 63. zusammengepfercht. „Von den Decken hingen die Hängematten.

Die Duchess of York transportierte die ersten Internierten nach Kanada.
Quelle: Schiffssteckbrief auf Wikipedia.

Auf den Tischen lagen Kameraden auf Matratzen. Hinter und unter den Tischen lagen sie auf Bänken. Die Schwimmwesten benutzen sie als Kopfkissen.“

Angeblich wurde während einer versuchten Meuterei[8] Gillman aao, zit.n. Hallerberg aao., Seite 63f. ein deutscher Seemann erschossen; bis zu zehn Kriegsgefangene wurden verletzt. Laut einer Darstellung hatte ein Offizier einer Gruppe in der Sonne sitzenden Internierten befohlen, unter Deck zu gehen. Das sei nicht schnell genug befolgt worden, worauf ein Schuss fiel. Die Historiker Leni und Peter Gillman[9] Gillman aao., Seite 170. und Michael Hallerberg zitieren den deutschen Oberst Georg Friemel[10] Der Oberst wurde im Mai 1940 in Holland gefangen genommen und nach Kanada gebracht. 1941 wurde er in Abwesenheit zum Generalmajor befördert. (1891 – 1977): Einem Wachtposten sei befohlen worden, seine Waffe auf die im Weggehen befindlichen Internierten zu richten. Diese wurden unruhig, eine Panik deutete sich an. Der Offizier habe nun den Schuss auf einen bestimmten Mann befohlen. Er habe verhindert, dass der Soldat seine Waffe für einen Warnschuss nach oben richtete. Der Schuss sei aus 15 Metern Entfernung gefallen. Ein Kriegsgericht sprach den wachhabenden Offizier frei.

2 – Arandora Star

Die Arandora Star[11] Blue Star Line on the Web, abgerufen am 25.8.2023. wurde 1927 als Luxus-Kreuzfahrer von der Blue Star Line in Dienst gestellt. Das 163 Meter lange 15.500 BRT-Schiff erreichte maximal 16 Knoten (30 km/h). Es wurde 1939 von der britischen Marine übernommen, bekam einen grauen Militäranstrich und Bewaffnung.

Am 1. Juli 1940 legte das Schiff in Liverpool mit Reiseziel St. Johns in Neufundland (bis März 1949 britisches Territorium) ab. An Bord waren 734 italienische und 479 deutsche Internierte sowie 86 deutsche Kriegsgefangene. Die Zahl der Bewacher wird mit 200 Mann, die Stärke der Besatzung mit 174 Seeleuten angegeben.

Das Schiff wurde schon am 2. Juli nordwestlich der Nordspitze der irischen Insel vom U-Boot U-47 des von den Nazis zum Seehelden stilisierten Kapitänleutnants Prien versenkt[12] Wikipedia über die Versenkung der Arandora Star, abgerufen am 2.9.2023..

Von den überlebenden 248 italienischen und 304 deutschen Häftlingen wurden 200 Italiener und 251 Deutsche schon am 10. Juli 1940 auf der Dunera deportiert – nun nach Australien.

Die Arandora Star war im Frühjahr 1940 als Testschiff für Anti-Torpedonetze im Einsatz.
Quelle: Britische Marine (Wikipedia).

3 – SS Ettrick

Für die Reederei P. & O. Steam Navigation fuhr die SS Ettrick[13] Vgl. Ubootarchiv, abgerufen am 2.9.2023. 1938/39 auf der Route Gibraltar – Glasgow. Das Schiff mit knapp 11.300 BRT hatte eine Höchstgeschwindigkeit von 20 Knoten (37 km/h) und war 157 Meter lang. Sie wurde am 15. April 1942 vor Gibraltar versenkt[14] Vgl. Uboat.net, abgerufen am 30.8.2023.. Von 336 Menschen an Bord wurden 312 gerettet.

Als dritter Deportierungsdampfer trat die SS Ettrick die Reise nach Kanada am 3. Juli 1940 an und traf am 13. Juli in Quebec ein. Im Zivilverkehr hatte sie 258 Plätze, 1.150 Militärs waren zugelassen. Die Zahl der Gefangenen bzw. Internierten an Bord wird mit 3.062 (!) angegeben. Mit Bezug auf Kapitän Milne ist von Platz für 1.200 Soldaten die Rede, jedoch seien 2.600 Internierte an Bord[15] Vgl. Hallerberg aao., Seite 63. gewesen. Laut Leni und Peter Gillman waren 900 Kriegsgefangene darunter. Das War Cabinet[16] Protokoll des War Cabinet vom 3.7.1940, The National Archives CAB-65-8-4 Blatt 28. nennt „858 B Class Germans, 1.348 deutsche Kriegsgefangene und 405 junge Italiener“. An anderer Stelle wird die Stärke des Wachkontingents mit 377 Offizieren und Mannschaften angegeben, so dass die Angabe „3.062“ der Gesamtzahl einschließlich der Seeleute nahe kommen dürfte. Hauptmann E. Howell[17] Gillman aao., Seite 204., Kommandant der eigens gebildeten 201st Prisoner of War Company, wird zitiert, dass er seine Leute kaum unterbringen konnte: „Zu viele Gefangene und Ausländer für die verfügbaren Quartiere.“

An Bord herrschten folglich „Bedingungen unbeschreiblicher Überlastung und Überfüllung“. Die Schlafbereiche wurden nachts sogar verschlossen, so dass der Zugang zu den Toiletten verhindert wurde. „Es gab 2 unzureichende Mahlzeiten pro Tag, (…), und erst nach 6 Tagen erhielt man eine Tagesration von 2 Keksen (sic!), die Hälfte der vom ersten Tag an die deutschen Kriegsgefangenen an Bord ausgegebenen Rationen“, wird weiter berichtet[18] „Property of Internees – Compensation for loss and damage“, „Summary report for the internment of German und Austrian Refugees in Canada“ vom 18.2.1941 TNA HO 215/210. Zut.n. Hallerberg aao., Seite 62..

Ein Zivilinternierter[19] Zit.n. Hallerberg, Seite 62. schickte Kanadas Director of Prisoners of War am 13. März 1941 sein Tagebuch, in dem er über die Reise der SS Ettrick u.a. schrieb: „Unmenschliche Behandlung – wie ein Sklavenschiff. Zwei große Räume, vielleicht geeignet für 500 Soldaten (…) sind besetzt mit 1.000 Leuten. Ergebnis – zu wenig Hängematten und der Platz reicht für sie nicht aus.“

Die SS Ettrick wurde auf ausdrücklichen Beschluss des britischen Kriegskabinetts keinem Konvoi zugeordnet, obwohl sowohl der Untergang der Arandora Star als auch die Aktivitäten deutscher U-Boote auf der Kanada-Route (vor allem im Bereich des Nordkanals) der Churchill-Regierung[20] War Cabinet, Protokoll vom 3.7.1940, S. 28. The National Archives (TNA). bekannt waren. Genauso bewusst wurde auch eine öffentliche Information unterlassen, die deutsche Schiffe im Falle des Falles von einem Angriff hätte abhalten können.

Dem dritten Internierten-Transport nach Kanada diente die SS Ettrick, ein Schwesterschiff der Dunera.

In einer Unterhaus-Debatte am 1. Juli 1941 wurde Kriegsminister David Margesson[21] Protokoll des Unterhauses vom 1.7.1941, abgerufen am 1.9.2023. gefragt, welche Maßnahmen bezüglich der Behandlung von Internierten auf dem Schiff ergriffen wurden. „Ich bin zufrieden, dass weitere Aktionen nicht erforderlich sind.“ Beschwerden hätten die Behandlung nach der Landung betroffen, wofür kanadische Behörden zuständig seien.

Trotz der Versenkung der Arandora Star am vorherigen Tag beschließt das War Cabinet ausdrücklich, die Ettrick mit „858 B Klasse Deutschen, 1.348 Kriegsgefangenen und 405 jungen Italienern“ an Bord „ohne Eskorte“ nach Kanada zu schicken. Quelle: The National Archives, CAB-65-8-4, Blatt 28.

4 – SS Sobieski

Der 1938 in England für die polnische Gdynia-Ameryka Linie gebaute 11.000 BRT-Transatlantik-Dampfer war 156 Meter lang und erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 17 Knoten (31,5 km/h). Im zivilen Einsatz betreuten 260 Besatzungsmitglieder bis zu 940 Passagiere. Nach nur einer zivilen Reise war die SS Sobieski von 1940 bis 1947 für die britische Marine[22] Wikipedia über die Sobieski, abgerufen am 1.9.2023. im Einsatz. Von 1950 bis zur Verschrottung 1974 befuhr sie unter sowjetischer Flagge als Gruziya Routen im Schwarzen Meer.

Mit der SS Sobieski wurden am 7. Juli 1940 1.838 Internierte nach Kanada auf die Reise geschickt. Chamberlain berichtete den War Cabinet[23] Memorandum von Chamberlain TNA FO 916/2581 vom 2.7.1940, zit.n. Hallerberg aao., S. 44. allerdings über nur 450 deutsche Kriegsgefangene und etwa 1.000 Internierte der Kategorien „B“ und „C“, was die Problematik der systematischen Überfüllung weder reduziert noch besser darstellt.

Das Schiff traf am 15. Juli 1940 im Hafen von Quebec City ein. Während der gesamten Überfahrt fühlten sich Juden und Antinazis einer ständigen Bedrohung durch eine potenzielle Meuterei der Nazis[24] Clive Teddern, „Enemy Aliens: The Internment of Jewish Refugees in Canada, 1940–43“, zit. n. The Canadian Encyclopedia Prison Ships in Canada vom 20.6.2017, abgerufen am 26.8.2023. ausgesetzt: „Wir haben uns nicht wegen der U-Boote gesorgt. Es war die Gefahr von den Leuten, mit denen wir zusammen waren.“

Vor der US-Küste sprang der kriegsgefangene U-Boot-Maat Kurt Reich durch ein Bullauge: Er erreichte schwimmend die nicht weit entfernte Küste. Dort wurde er von US-Behörden aufgegriffen. Die deutsche Botschaft kaufte ihn frei und schaffte ihn nach Deutschland, wo seine „Heldentat“ propagandistisch ausgeschlachtet[25] Reich beschrieb „den Geist unserer U-Boot-Waffe“ u.a. 1942 in einem Propagandabuch und 1943 im Nazi-Organ „Die Kriegsmarine“. wurde.


Die SS Sobieski wurde ursprünglich für eine polnische Reederei gebaut.
Quelle: Imperial War Museum Nr. 19103.

Die Sobieski soll Teil der streng geheimen „Operation FISH II[26] Today in Ottawa über die Operation Fish, abgerufen am 25.8.2023.“ gewesen sein: Sie transportierte einen Teil des britischen Staatsschatzes in Gold und Wertpapieren, deren Gesamtwert „konservativ“ auf 450 Mio. Pfund Sterling[27] Entsprach 2015 67 Mrd. kanadischen Dollars, heute knapp 45,5 Mrd. €. geschätzt wurde. Die supergeheime und risikoreiche Aktion wird in der Literatur als „mutiges aber verzweifeltes Wagnis“ bezeichnet, zumal die Versenkung der SS Laurentic mit 43 Tonnen Gold durch ein deutsches U-Boot während des 1. Weltkrieges in unangenehmer Erinnerung gewesen sein dürfte. Die an der Aktion beteiligte Batory war wegen eines Maschinenschadens zu einem Stopp gezwungen. An Bord der Monarch of Bermuda brachte man nebenbei Flüchtlingsfamilien „in Sicherheit“. Kinder und Internierte als menschlicher Schutzwall[28] Today in Ottawa aao.?

5 – HMT Dunera

Mit der HMT Dunera[29] Wikipedia über die Dunera, abgerufen am 20.8.2023., als Militärtransporter zugelassen für 1.167 oder 1.157 Passagiere, wurden 2.542 Männer ab Liverpool am 10. Juli 1940 deportiert. Unter ihnen waren 451 deutsche und italienische Überlebende der Arandora Star. Die Dunera war das letzte der fünf Deportierungsschiffe und das einzige mit dem Ziel Australien.

Schon am zweiten Reisetag wurde die Dunera von einem deutschen U-Boot mit zwei Torpedos beschossen. Die 3.000 Internierten, Bewacher und Seeleute an Bord kamen mit dem Schrecken davon. Um diesen Vorfall ranken sich Legenden, an deren Entstehung und Verbreitung wahrscheinlich auch Nazis mitgewirkt haben, Darunter die Falschinformation, ein deutsches U-Boot hätte die Dunera zeitweise begleitet, um sie vor den Angriffen anderer Nazi-Schiffe zu schützen.

Die 57tägige Fahrt von Liverpool nach Australien erwies sich als Horrortrip angesichts der Raubzüge und gewalttätigen Aktionen der Wachmannschaft gegen die Internierten. Offiziere hatten dabei mitgewirkt, die Aktionen gedeckt und waren selbst an antisemitischen Übergriffen beteiligt.

Die Dunera – das Schicksalsschiff für 2.500 Internierte.
Quelle: Australian War Museum Nummer 7441966.

Zahlenspiele

Unter den 6.753 Internierten der SS Duchess of York, der SS Ettrick und der Arandora Star hätten sich „2.108 zivilinternierte Deutsche und Österreicher der Kategorie ‚A‘, 2.290 zivilinternierte Deutsche und Österreicher der Kategorien ‚B‘ und ‚C‘“ befunden, entnimmt Michael Hallerberg einem Memorandum der Briten an Kanadas Regierung vom 28. Juli 1940. Warum dort Angaben zur SS Sobieski fehlten ist unbekannt. Hallerberg verweist aber auf das o.g. Chamberlain-Memorandum.

Dazu nennt Eric Koch[30] Vgl. Wikipedia über Eric Koch (1919, Frankfurt/Main – 2018, Toronto), der im Mai 1940 mit anderen Studenten und Professoren in Cambridge verhaftet und nach Kanada deportiert wurde. Nach jahrzehntelager Tätigkeit, auch in Führungspositionen, für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, war er als Schriftsteller tätig. Neben drei SciFi-Romanen und Fiction mit autobiografischen Zügen veröffentlichte er in „Deemed Suspect. A Wartime Blunder“ eine Recherche und kritische Bewertung der britischen Massenabschiebungen nach Kanada des Jahre 1940., einer der nach Kanada Abgeschobenen, genauere Zahlen. Demnach wurden auf der Ettrick 1.308 Internierte der Kategorien „B“ und „C“, 405 Italiener und 782 Kriegsgefangene nach Kanada gebracht – zusammen also fast 2.500 Männer. Die Zahl der mit den Schiffen Duchess of Vork, Ettrick und Sobiesky nach Kanada Deportierten beziffert Koch[31] Zit. n. Eric Koch, „Deemed Suspect. A Wartime Blunder“, Toronto 1980, Seite 262. mit 2.112 „Kategorie „A“-Internierten, darunter 178 Flüchtlinge, 2.290 Internierte der Kategorien „B“ und „C“, 405 Italiener und 1.868 Kriegsgefangenen. Insgesamt sind das 6.675 Männer.

Verschiedene Originalquellen und unterschiedliche Zählweisen mögen zu eher geringen Differenzen einzelner Quellen führen. Gleichwohl wird aber klar, wie die britische Regierung mit unrichtigen Angaben über die Zusammensetzung der Deportierten hinwegtäuschte. Die Zahl der Deportierten der Kategorie „A“ beträgt das Dreieinhalbfache der nach den Befragungen der Tribunale offiziell so eingestuften 569 Personen. Ein Hintergrund der Differenz mag sein, dass alle seit Kriegsbeginn festgesetzten Seeleute der deutschen Handelsmarine ungeprüft automatisch als „A“ eingestuft wurden, um sie sofort einsperren[32] Vgl. Gillman aao., S. 169 zu können, obwohl diese Zivilisten nicht als Kriegsgefangene behandelt werden durften.

So bekam man eine hohe Zahl potenzieller Nazis (Kategorie „A“) zusammen und konnte gegenüber den kanadischen Behörden die Dringlichkeit und die Menge „feindlicher“ Personen dramatisieren.

Schlussendlich wurden rund 1.700 Angehörige der deutschen Handelsmarine (Kategorie „A“), 2.700 Internierte (Kategorien „B“, „C“), 400 Italiener und 1.950 Kriegsgefangene – zusammen also 6.750 Männer – bis zum 15. Juli 1940 nach Kanada deportiert. Hätte die Arandora Star ihr Ziel unbeschadet erreicht, wären es 2.200 Seeleute, 1.700 Internierte, 1.100 Italiener und 1.400 Kriegsgefangene – zusammen also 6.400 gewesen, errechneten die Gillmans[33] Gillman aao., S. 205f..

Sie stellten aber auch fest, dass Angaben Chamberlains am 3. Juli 1940 im War Cabinet fehlerhaft waren. Er hatte u.a. erklärt, an Bord der Ettrick hätten sich ausschließlich „B“-Internierte befunden. Tatsächlich wurden auf diesem Schiff etliche „C“-Internierte[34] Gillman aao., S. 206. nach Übersee abgeschoben – also von den Briten selbst als Nazigegner bzw. befreundete Ausländer eingestufte Menschen.

9 Punkte zu einem Kriegsverbrechen

Die folgenden Stichpunkte fassen die britischen Deportationen nach Übersee zusammen.

  • Britische Offiziere mehrerer Lager erklärten Internierten, sie könnten sich im Zielland frei bewegen und ihre Familien nachholen. Diese Lüge veranlasste viele dazu, sich im Glauben an die Wahrhaftigkeit dieser Information „freiwillig“ nach Kanada zu melden.
  • Als Alleinfahrer waren die fünf Schiffe, sobald sie den Nordkanal zwischen Schottland und Nordirland passierten und die britischen Gewässer verließen, den dort operierenden deutschen U-Booten schutzlos ausgeliefert.
  • Keines der fünf Schiffe war als Gefangenentransporter erkennbar, etwa durch Rot Kreuz-Zeichen. Die Dunera hatte z.B.  einen militärischen Anstrich und sichtbar Maschinengewehre auf Deck. Die Arandora Star führte u.a. zwei 4,7 Zoll-Kanonen[35] Vgl. Gillman aao., S. 189. (12cm) sichtbar mit.
  • Alle fünf Transportschiffe wurden bewusst und in unzulässiger Weise erheblich – teils um das Doppelte – überbelegt.
  • Der Zugang zu den Decks war auf allen Schiffen durch Stacheldraht-Barrieren, von kleinen Durchlässen abgesehen, gesperrt. Dadurch wurden Fluchtwege blockiert.
  • Von keinem der fünf Transporte wurde bekannt, dass die vorgeschriebenen Evakuierungs- und Notfallübungen durchgeführt worden wären.
  • Den Internierten der Dunera wurde das Reiseziel nicht oder falsch mitgeteilt, so dass sich viele unter falschen Voraussetzungen „freiwillig“ gemeldet hatten. Das tatsächliche Ziel Australien wurde erst beim ersten Zwischenstopp in Freetown/Afrika erkennbar.
  • Kriegsgefangene (unter ihnen viele Nazis) wurden wesentlich besser behandelt als die internierten Juden, Nazigegner und Italiener.
  • Auf mehreren Schiffen kam es zu Übergriffen der Wachsoldaten. Einschließlich des Raubes von Wertsachen, der Vernichtung von Dokumenten, gewalttägiger Attacken und antisemitischer Übergriffe mit Wissen und Unterstützung der kommandierenden Offiziere war die Situation auf der Dunera besonders schlimm.

Antisemitische Bedrohungen und „beleidigte Soldatenehre“

Jüdische Internierte fühlten sich, wo sie mit Nazis in einem Raum untergebracht wurden, durch die Möglichkeit gewalttätiger Übergriffe der Rassisten an Leib und Leben bedroht. Sie forderten eine räumliche Trennung der beiden Gruppen, z.B. auf der Dunera. Diese Bedrohung wird durch die Gegenseite indirekt bestätigt. Georg Friemel[36] Michael Hallerberg "Darstellung und Wahrnehmung von deutschen Kriegsgefangenen in Kanada 1940-46", Dissertation, Seite 61. hatte wahrlich keinen Grund zur Beschwerde über Unterbringung und Versorgung. Dieser Oberst der Naziluftwaffe sah „die Ehre der deutschen Soldaten durch die Unterbringung zusammen mit Juden, ‚Vaterlandsverrätern‘ (also politischen Gegnern, pd) systematisch beleidigt“.

Das Ende der Internierungs-Politik

Die Dunera war das letzte Deportations-Schiff. Die Versenkung der Arandora Star und deren 800 Opfer hatte sofort öffentliche und parlamentarische Kritik an der Deportationspolitik Churchills ausgelöst. Als das Geschehen auf der Dunera in Großbritannien bekannt wurde, war diese Politik nicht mehr zu halten und Churchill erklärte sie zum „bedauerlichen und bedauernswerten Fehler“. Die australischen Lager wurden bis Mitte 1942 abgewickelt. Von dort gingen 1.135 meist jüdische Internierten nach England, wo sie als Pionier-Soldaten oder anderweitig zum Sieg über die Nazis beitrugen. Der Status der in australischen Lagern internierten Handelsschiffer wurde etwa zeitgleich von „Internierung“ auf „Kriegsgefangenschaft“ geändert. Die letzten Männer dieser Gruppe wurden 1947 repatriiert . Internierte, die in Australien bleiben wollten, erwarben dieses Recht durch den „freiwilligen“ Dienst in einer eigens für sie gebildeten Arbeitseinheit der Armee. „Wir verteidigen die 70. Verteidigungslinie“, mokierte sich Franz Lebrecht später. Wie viele seiner Internierungskameraden hätte er gern mit der Waffe gegen den Faschismus gekämpft.

In Großbritannien selbst wurden bis Ende 1940 rund 8.000 der 19.000 Internierten freigelassen. Knapp 1.300 hätten sich dem Pioneer Corps angeschlossen. Bis 1942 waren noch 5.000 Menschen – vor allem auf der Isle of Man – in britischem Gewahrsam[37] Vgl. The National Archives (UK) online.blog, abgerufen am 30. August 2023..

Die Massenabschiebungen verstießen in vielerlei Hinsicht gegen internationale Abkommen. Aber auch britisches Recht dürfte beeinträchtigt worden sein, um sich der ungeliebten Ausländer um jeden Preis zu entledigen.


Hinweis: Aus dem Buch von Eric Koch resultierende Informationen wurden im Mai 2024 hinzugefügt.

Fußnoten

Anzeigen
  • [1]Wikipedia über die Duchess of York, abgerufen am 1.9.2023.
  • [2]1 Knoten entspricht einer Seemeile bzw. 1852 Meter Geschwindigkeit pro Stunde.
  • [3]Vgl. Peter und Leni Gilllman „‘Collar the Lot!‘ How Britain Interned And Expelled its Wartime Refugees“, London 1980, Seite 169.
  • [4]Michael Hallerberg, Dissertation „Darstellung und Wahrnehmung von deutschen Kriegsgefangenen in Kanada, 1940-46“ an der Uni Osnabrück, 2019, Seite 44.
  • [5]Gillman/Gillman, S. 170.
  • [6]Eva Colmers, Interview mit dem Kriegsgefangenen Fritz Skerries, zit.n. Hallerberg S. 64.
  • [7]Riedel „Hinter kanadischem Stacheldraht“ zit.n. Hallerberg aao., S. 63.
  • [8]Gillman aao, zit.n. Hallerberg aao., Seite 63f.
  • [9]Gillman aao., Seite 170.
  • [10]Der Oberst wurde im Mai 1940 in Holland gefangen genommen und nach Kanada gebracht. 1941 wurde er in Abwesenheit zum Generalmajor befördert.
  • [11]Blue Star Line on the Web, abgerufen am 25.8.2023.
  • [12]Wikipedia über die Versenkung der Arandora Star, abgerufen am 2.9.2023.
  • [13]Vgl. Ubootarchiv, abgerufen am 2.9.2023.
  • [14]Vgl. Uboat.net, abgerufen am 30.8.2023.
  • [15]Vgl. Hallerberg aao., Seite 63.
  • [16]Protokoll des War Cabinet vom 3.7.1940, The National Archives CAB-65-8-4 Blatt 28.
  • [17]Gillman aao., Seite 204.
  • [18]„Property of Internees – Compensation for loss and damage“, „Summary report for the internment of German und Austrian Refugees in Canada“ vom 18.2.1941 TNA HO 215/210. Zut.n. Hallerberg aao., Seite 62.
  • [19]Zit.n. Hallerberg, Seite 62.
  • [20]War Cabinet, Protokoll vom 3.7.1940, S. 28. The National Archives (TNA).
  • [21]Protokoll des Unterhauses vom 1.7.1941, abgerufen am 1.9.2023.
  • [22]Wikipedia über die Sobieski, abgerufen am 1.9.2023.
  • [23]Memorandum von Chamberlain TNA FO 916/2581 vom 2.7.1940, zit.n. Hallerberg aao., S. 44.
  • [24]Clive Teddern, „Enemy Aliens: The Internment of Jewish Refugees in Canada, 1940–43“, zit. n. The Canadian Encyclopedia Prison Ships in Canada vom 20.6.2017, abgerufen am 26.8.2023.
  • [25]Reich beschrieb „den Geist unserer U-Boot-Waffe“ u.a. 1942 in einem Propagandabuch und 1943 im Nazi-Organ „Die Kriegsmarine“.
  • [26]Today in Ottawa über die Operation Fish, abgerufen am 25.8.2023.
  • [27]Entsprach 2015 67 Mrd. kanadischen Dollars, heute knapp 45,5 Mrd. €.
  • [28]Today in Ottawa aao.
  • [29]Wikipedia über die Dunera, abgerufen am 20.8.2023.
  • [30]Vgl. Wikipedia über Eric Koch (1919, Frankfurt/Main – 2018, Toronto), der im Mai 1940 mit anderen Studenten und Professoren in Cambridge verhaftet und nach Kanada deportiert wurde. Nach jahrzehntelager Tätigkeit, auch in Führungspositionen, für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, war er als Schriftsteller tätig. Neben drei SciFi-Romanen und Fiction mit autobiografischen Zügen veröffentlichte er in „Deemed Suspect. A Wartime Blunder“ eine Recherche und kritische Bewertung der britischen Massenabschiebungen nach Kanada des Jahre 1940.
  • [31]Zit. n. Eric Koch, „Deemed Suspect. A Wartime Blunder“, Toronto 1980, Seite 262.
  • [32]Vgl. Gillman aao., S. 169
  • [33]Gillman aao., S. 205f.
  • [34]Gillman aao., S. 206.
  • [35]Vgl. Gillman aao., S. 189.
  • [36]Michael Hallerberg "Darstellung und Wahrnehmung von deutschen Kriegsgefangenen in Kanada 1940-46", Dissertation, Seite 61.
  • [37]Vgl. The National Archives (UK) online.blog, abgerufen am 30. August 2023.

Danke für Ihr Interesse an dunera.de. Leider können aus rechtlichen Gründen keine Bilder oder Grafiken heruntergeladen werden. Bitte kontaktieren Sie uns bei Fragen zu Bildern/Grafiken!

Thank you for your interest in dunera.de. Unfortunately, images or graphics cannot be downloaded for legal reasons. Please contact us if you have any questions regarding images/graphics!

Inhaltsverzeichnis
Nach oben scrollen

Impressum | Datenschutz | Haftungsausschluss