Boschwitz-Roman als Inspiration für ein „Melodram“ mit Sängern und Sprechern
dunera.de hatte in Zusammenhang mit der Biografie von Ulrich Boschwitz und in mehreren Nachrichten über Adaptionen seines Romans an deutschsprachigen Theatern berichtet. Die künstlerische Rezeption tritt nun wohl in eine neue Phase ein: Die Dresdner Philharmonie kündigt die Premiere von „Der Reisende“ als einmalige Aufführung an. Das Stück wird als „Melodram für Sprecher, Sprecherin, Tenor, Bariton, Chor, Zuspielungen und großes Orchester“ beschrieben.
Komponist und Autor des Librettos ist Jan Müller-Wieland. Er studierte Komposition u.a. bei Hans Werner Henze, einem der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, der auch in seinem Werk als konsequenter Gegner von Krieg und Faschismus und als Linker bekannt war, was ihm in der Bundesrepublik des Kalten Krieges einigen Ärger eintrug.

Jan Müller-Wieland: „Mich interessiert Musik, die durch den Rückblick vorausschaut. Zukunft ohne Vergangenheit ist für mich unvorstellbar.“ Foto: Website Müller-Wieland.
Kompositorisch wie inhaltlich bewegt sich Müller-Wieland auf den Spuren seines Lehrers. Ihn faszinierte der Exilroman „Der Reisende“, den er kompositorisch und mit dem Libretto umsetzt.
Aus Sicht von Müller-Wieland lebt die Romanfigur des Otto Silbermann das Leben des Vaters von Ulrich Boschwitz weiter, der zwei Wochen nach der Geburt des Sohnes 1915 starb. Die Handlung ist kurz nach den Novemberpogromen im November 1938 angesiedelt. „Der Roman löste kompositorisch bei mir sofort ein Szenario für ein umfangreiches Melodram für Sprecherin (Elfriede Silbermann), Sprecher (Otto Silbermann), Tenor (Eduard Silbermann), Bariton (Ottos Kollege Becker/ Bruder von Elfriede), Chor (die Illusion, das Visum), Orchester (die Psyche, der brutale Druck auf die Wohnungstür der Silbermanns) und Zuspielungen (Schnellzüge, Bankomat-Geräusche) aus. Die Seelenkunst Musik als Flucht. Darin musiziert das Ehepaar Silbermann aber nicht mit. Es ist ausgeschlossen. Es spricht und flüstert sich nur zu, als ob es noch etwas zu sagen hätte.“
Müller-Wieland weist von Beginn an dem Orchester eine dramaturgische Aufgabe zu: „Das Szenario begann und beginnt mit einem dissonanten Urklang im Orchester, einer Art Rammbock. Dieser steht für den brutalen Druck auf die Wohnungstür der Silbermanns.“ Er greift u.a. den Schlager „Das ist die Berliner Luft“ musikalisch auf. Der Chor begleitet die Zugreisen des Otto Silbermann bis zur „Festnahme, dem Irrsinn, wie ihn der junge Boschwitz – ein aktueller Büchner – szenenhaft formulierte.“
Die Dresdner Philharmonie ordnete „Der Reisende“ als Sonderkonzert in ihre Veranstaltungsreihe „80 Jahre Ende des zweiten Weltkrieges 2025“ ein. Die Weltpremiere wurde treffend auf den 9. November, den Jahrestag der Nazipogrome gegen die Juden gelegt. Das musikalische Melodram soll aber nicht nur Flucht und Vertreibung anklagen, sondern „auch die Hoffnung, die Sehnsucht und die Menschlichkeit, die selbst in der größten Verzweiflung ihren Platz finden“ herausstellen, schreibt die Dresdner Philharmonie.
Sehr erfreulich ist, dass es gelang, mit Ulrich Noethen und Birgit Minichmayr zwei bekannte Charakterdarsteller des deutschsprachigen Theaters und Kinos für das Projekt zu gewinnen. Die Sänger Kangyoon Shine Lee und Michael Borth verfügen über umfangreiche Erfahrungen mit der klassischen wie der modernen Musikliteratur.
„Der Reisende“
Von Jan Müller-Wieland nach dem Roman von Ulrich Boschwitz.

Uraufführung am Sonntag, dem 9. November, um 18 Uhr im Kulturpalast Dresden (Schloßstraße 2, 01067 Dresden). Um 17 Uhr gibt Jan Müller-Wieland eine Einführung in den Abend.
Mitwirkende:
Dirigent: Gergely Madaras. Sprecher: Ulrich Noethen (Otto Silbermann), Birgit Minichmayr (Elfriede Silbermann). Sänger: Kangyoon Shine Lee (Tenor), Michael Borth (Bariton). Philharmonischer Chor Dresden, kammerchor cantamus, Dresdner Philharmonie.


Ulrich Noethen und Birgit Minichmayr sprechen die Rollen des Ehepaars Silbermann (Fotos: Irene Zandel; Rainer Werner (Burgtheater).

Ulrich Boschwitz fiel im Alter von nur 27 Jahren der Versenkung der Abosso zum Opfer.

