Dunera

Der „Fall Grün“

Bei der Arbeit an vielen Biografien fiel auf, dass jüdische Männer am 22. oder 23. September 1938 vom KZ Dachau nach Buchenwald verlegt wurden. Dass die von der SS durchgeführten Transporte Teil der internationalen Politik waren, wurde durch eine unerwartete Information des Archives der Gedenkstätte Buchenwald deutlich. Hintergrund war der Plan der Nazis zur militärischen Eroberung der benachbarten CSR. Die militärische Planung lief unter dem Codewort „Fall Grün“. Dass es nicht zu diesem Krieg kam, ist freilich kein Verdienst der westlichen „Beschwichtigungspolitik“: Weil Großbritannien und Frankreich den Nazis freie Hand gegen Tschechien gewährten wurde der Krieg nur um ein Jahr verschoben.

Peter Dehn im Februar 2024.

Der Fehlschlag des „Appeasement“

Am 5. November 1937 hatte Hitler vor ausgewählten Militärs und des Außenministeriums seine Kriegspläne[1] Vgl. Wikipedia über den Fall Grün, die Sudentenkrise und das Hoßbach-Protokoll, abgerufen am 20.1.2024. verkündete. Zuerst sollten Österreich und die Tschechoslowakei – dort das überwiegend deutschsprachige Sudetengebiet – einverleibt werden. Die militärische Planung eines Angriffs auf die CSR lief wenig später unter dem Codewort „Fall Grün“ an.

Die Welt hatte gerade den „Anschluss“ Österreichs am 28. März 1938 durch Untätigkeit goutiert. Hitler sah sich nun im Vorteil für die Destabilisierung und bevorstehende Eroberung der CSR. Die Nazi-Propaganda schürte den Nationalismus und behauptete, die deutsche Minderheit in der CSR müsse vor fremder Beherrschung geschützt werden und sei daher „Heim ins Reich“ zu holen. „Wir müssen also immer so viel fordern, daß wir nicht zufriedengestellt werden können“, riet Hitler[2] Helmuth G. Rönnefarth: „Die Sudetenkrise in der internationalen Politik: Entstehung – Verlauf – Auswirkung“, 2 Bde., Steiner, Wiesbaden 1961, Bd. 1, S. 219, zit. n.n Wikipedia über die Sudetenkrise, ebenda. seinem politischen Statthalter im Sudentengebiet Konrad Henlein.

Hitler auf Eroberungskurs

Im Mai 1938 bestätigte Hitler – wiederum noch intern – seinen Kriegskurs[3] Klaus Sator: „Das „Münchener Abkommen von 1938 und die Zerschlagung der Tschechoslowakei.“ In: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aktueller Begriff Nr. 30/2013, 27.9.2013, zit.n. Wikipedia ebenda.: „Es ist mein unabänderlicher Entschluss, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen.“ Zur propagandistischen Rechtfertigung setzte er auf weitere Eskalation. U.a. wurden Polen und Ungarn überredet, Gebietsansprüche gegen die CSR zu erheben. Durch provokative Reden von Hitler und Goebbels sah sich das Henlein-Gefolge zur Aufstellung paramilitärischer Einheiten und einem Aufstand ermutigt, der scheiterte.

Parallel wurde ab August international verhandelt. Mehrfach traf sich der britische Premierminister Neville Chamberlain im September mit Hitler. Tschechien sah sich bedroht und ordnete die allgemeine Mobilmachung an. Wenige Tage später, am 26. September 1938, drohte Goebbels Tschechien erstmals öffentlich mit einem Krieg. Weitere drei Tage später trafen sich die Regierungschefs Hitler, Mussolini, Chamberlain und für Frankreich Daladier. Sie vereinbarten am 30. September das Münchner Abkommen[4] Wikipedia über das Münchner Abkommen, abgerufen am 20.1.2024.. Die tschechische Regierung, die – ebenso wie ihr Bündnispartner Sowjetunion – am Verhandlungstisch nicht erwünscht war, wurde u.a. gezwungen, ein Fünftel der Fläche an Deutschland abzutreten und verlor damit ein Viertel der Bevölkerung. Daher wird die Vereinbarung oft als „Münchner Diktat“ bezeichnet. Auch Polen und Ungarn nutzten das Abkommen, um sich Gebiete der CSR einzuverleiben. So wurde die Tschechische Republik mit britischer und französischer Hilfe zerschlagen und aus einem demokratischen Staat der Vasall einer Diktatur.

Chamberlain und Daladier spielten sich nun als Friedensengel auf. „Ich glaube, es ist Friede für unsere Zeit“ (im Original: „I believe it is peace for our time[5] Diese vollmundige Aussage kopierte eine Äußerung des US-Politikers Benjamin Disraeli von 1878. Vgl. Wikipedia, 24.1.2024.“), brüstete sich Chamberlain bei seiner Rückkehr nach England mit einem entliehenen Spruch.

München am 30. September 1938: Der britische Premier Neville Chamberlain, Frankreichs Ministerpräsident Daladier, Hitler, der italienische „Duce“ Mussolini und der italienische Außenminister Graf Ciano (vorne, von links). Dahinter u.a. Nazi-Außenminister von Ribbentrop (rechts hinter Hitler) und von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt (zweiter von rechts).
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R69173 / o. Ang.; Agentur: Scherl.

Frieden nur für ein halbes Jahr

Das Münchner Abkommen erwies sich schon nach einem halben Jahr als Farce: Am 15. März 1939 setzte er seinen Plan vom Mai 1938 um und ließ die Wehrmacht nach Tschechien einmarschieren. Der nach den Annexionen durch Deutschland, Polen und Ungarn verbliebene Rest Tschechiens war wehrlos und die Armee wurde ohne Gegenwehr entwaffnet. Tags darauf wurde das Gebiet als Protektorat Böhmen und Mähren[6] Vgl. u.a. Bundesarchiv über das Münchner Abkommen, abgerufen am  20.1.2024. mit dem Anschein einer Teil-Autonomie vom Nazireicht vereinnahmt.

Die vom Ausland hingenommene Zurschaustellung der außenpolitischen Dominanz des Nazireiches machte aus Chamberlains Strategie der „Beschwichtigung“ („appeasement“) endgültig einen strategischen Fehlschlag. Der Kniefall Chamberlains und Daladiers vor den deutschen und italienischen Faschisten verzögerte den Kriegsbeginn allenfalls um elf Monate: Am 1. September 1939 begründete Hitler den Angriff auf Polen und damit den Beginn des 2. Weltkrieges mit einer Propaganda-Lüge. Von Anfang an auf Seiten der Aggressoren war auch die von Nazi-Verbündeten gegründete diktatorisch beherrschte Slowakei[7] Vgl. Wikipedia über die Slowakei, abgerufen am 10.1.2024. beteiligt.

Soweit der „Fall Grün“ als historischer Hintergrund der zeitweisen Räumung des KZs Dachau.

Das Münchner Abkommen besiegelte die Zerschlagung der CSR. Das Sudentenland (1) geht an das Deutsche Reich. Polen bekommt das Olsagebiet (2). Ungarn Gebiete mit ungarischer Bevölkerungsmehrheit (3), die Karpatoukraine und einen Teil der Ostslowakei (4). Im März 1939 marschiert die Nazi-Wehrmacht im Rest von Tschechien (5) ein und formt es zum Protektorat Böhmen und Mähren. Die Slowakei (6) wird ein Vasallenstaat Hitlers. Quelle: Wikipedia zum Münchner Abkommen, Lizenz CC BY-SA-3.0.

Von Dachau nach Buchenwald

Die militärische Planung des „Falls Grün“ flankierten die Nazis mit Vorbereitungen, um Gefangene und Oppositionelle aus Tschechien hinter Gitter zu bringen. Aufgrund der Nähe zum Nachbarland wurde das KZ Dachau geräumt. „Die in Dachau zurückgebliebenen Nichtjuden sind in Zelten außerhalb des Lagers untergebracht worden. Das Lager wird geräumt. Niemand weiß für wen“, erinnert sich der Häftling Bruno Heilig[8] Bruno Heilig, „Menschen am Kreuz", Berlin 1948.  Zit. n. Harry Stein „Juden in Buchenwald 1937 – 1942“, Hrg. Gedenkstätte Buchenwald 1992, Seite 31..

Nach offenkundigen Tests am 16. und 19. September 1938 mit 70 und 30 jüdischen Häftlingen wurden zwei große Transporte mit 1.200 Juden am 22. und 1.095 Juden am 23. September von Dachau nach Buchenwald geschickt. Franz Lebrecht[9] Lebrecht, Franz, „Bericht über Erlebnisse während der Zeit des Dritten Reiches, - u.a. aus 4 Konzentrationslagern“ vom 10. April 1960 für die Wiener Library, London, Seite 16. stellt das in zeitlichen Zusammenhang mit der Tschechien-Krise und berichtet über den Transport vom 22. September 1938:

„… auf welcher wir nicht schlafen durften, sondern entweder den Kopf auf einen bestimmten Punkt an der Decke zu richten hatten oder den Kopf auf und ab bewegen, Lieder zu singen hatten oder Armstützen auf dem Boden des Wagens machen mussten.“

Zu den knapp 2.000 Männern, die am 22. und 23. September 1940 auf Transport geschickt wurden, gehörten u.a. auch Heinz Dehn, Leon Gottlieb und Ernst Friedlich. Den Empfang in Buchenwald schildert Franz Lebrecht so: „Ein Krimineller, zu dieser Zeit einer der Lagerältesten, namens Richter, (ehemaliger Stahlhelmmann, den ich von Lichtenburg her kannte) von welchem man herausfand, dass er ein Spitzel war, jagte uns in die Baracken und schlug uns.“

Der Anteil jüdischer KZler unter den 10.488 Buchenwald-Insassen stieg bis Ende September auf 3.124. „War bis September 1938 jeder neunte Häftling jüdischer Herkunft, so betraf dies nun jeden dritten“, fasst Harry Stein[10] Stein aao., Seite 33. zusammen.

Die plötzlich wesentlich höhere Belegung führte zur Überfüllung. Stein beschreibt die Situation:

„Die jüdischen Häftlinge aus Dachau wurden in total überfüllte Baracken gepfercht. In diesen Baracken mangelte es an allem. Tische, Stühle und Betten war nicht in genügender Anzahl vorhanden. Jede Zweierkoje war mit drei Mann belegt. Dutzende schliefen Nacht für Nacht auf dem Fußboden. Die kriminellen Blockältesten der jüdischen Baracken versuchten, dem Chaos durch Brüllen und Schlagen Herr zu werden, erreichten dadurch jedoch das Gegenteil.“

Die politischen Häftlinge helfen

Die meisten der nun 2.395 Juden in Buchenwald waren politische Gefangene[11] Stein aao., Seite 33 Ziffer 58. Von den 4.012 „Politischen“, die am 10. November 1938[12] Noch ohne die 9.845 am 10. November verhafteten Aktionsjuden, die nach Buchenwald verschleppt wurden. Nach Dachau wurden 10.911 Männer gebracht, der Anteil der nach Sachsenhausen geschickten „Aktionsjuden“ wird auf 6.000 geschätzt, abgerufen am 2.1.204. unweit der Goethe- und Schillerstadt Weimar festgehalten wurden, waren 1.955 jüdisch.

Die Solidarität der politischen Häftlinge[13] Stein aao., Seite 35. ist letztlich auch ein Kapitel des Widerstands gegen die Kriminellen und die Nazis, die diese in Lagerfunktionen lanciert hatten. Über den Zusammenhalt der politischen Häftlinge schreibt Stein:

„Die deutschen politischen Juden stellten in ihrer Baracke die Betten zusammen, so daß jeweils fünf Mann in drei Kojen schlafen konnten. Diese einfache Maßnahme, zu der die kriminellen Blockältesten nicht in der Lage gewesen waren, entspannte die Situation sichtlich. (…) Schon hier wurde deutlich, wie wichtig es für das Leben der jüdischen Häftlinge im Lager war, daß politische Häftlinge aus ihren Reihen die Funktionen der Blockältesten und Stubendienste eroberten.“

Außerdem wurden am 25. September 434 „Polizeihäftlinge“ aus Wien nach Buchenwald gebracht. In dieser Gruppe befanden sich mehrheitlich keine Juden, sondern hauptsächlich Austrofaschisten, die in einer eigenen Baracke untergebracht wurden.

… sich nicht zu ergeben …

Die Dachauer Juden wurden nicht anders behandelt wie die Juden, die schon im KZ Buchenwald eingesperrt waren. „Auch sie wurden Schwerstarbeiterkommandos zugeteilt, besonders schikaniert und mißhandelt“, schätzt Stein ein. Er verweist aber auch darauf, dass die politische Opposition zur Naziherrschaft „ein Kraftquell (war), der sie moralisch widerstandsfähiger machte. Dabei war nicht vordergründig entscheidend, welche politische Anschauungen im einzelnen diesen Quell speisten. Wesentlich war, daß sie ein Motiv hatten, sich nicht zu ergeben[14] Stein aao., Seite 36..“

Den Männern, die allein wegen ihrer jüdischen Abstammung eingesperrt worden waren, ging es jedoch wesentlich schlechter, wie der österreichische Jude Bruno Heilig[15] Zit n. Stein aao., Seite 36/37. notierte:

„Diese Leute sind in einer furchtbaren Seelenverfassung. (… Im Gegensatz zu den politischen Häftlingen haben sie …) nie an Kampf gedacht, sie sind ihren Geschäften nachgegangen, haben ihre Steuern bezahlt, haben im Kaffeehaus Karten gespielt, haben mit ihren Frauen geschlafen und die Politik war für sie Zeitungslektüre. Jetzt auf einmal sind sie leidende Helden der Politik geworden. Verständnislos, fassungslos standen sie diesem Schicksal gegenüber.“

Diese Erkenntnis hatten wohl auch die jüdischen Musiker Fritz Löhner-Beda und Hermann Leopoldi im Sinn. Mit ihrem Buchenwald-Lied[16] Hintergrund, Text und eine Aufnahme des Buchenwald-Liedes auf der Website der Gedenkstätte Buchenwald, abgerufen am 24.2024. gaben sie gerade auch den Entmutigten und Passiven Halt. Dort heißt es u.a.:

Halte Schritt, Kamerad, und verlier nicht den Mut,
denn wir tragen den Willen zum Leben im Blut
und im Herzen, im Herzen den Glauben.

Und im Refrain:

O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unser Schicksal sei,
wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!

Im Juli 1937 bringen SS-Männer bringen erste Häftlinge in eine Baracke des neuen KZs Buchenwald. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Gedenkstätte Buchenwald, Bild Nr. 001.013.

Über den Alltag im KZ Buchenwald wird u.a. auch in der Biografie über Franz Lebrecht berichtet. Von Leon Gottlieb stammt ein Manuskript über seine Erlebnisse „Zwei Jahre in Nazi-KZs“.

Fußnoten

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  • [1]Vgl. Wikipedia über den Fall Grün, die Sudentenkrise und das Hoßbach-Protokoll, abgerufen am 20.1.2024.
  • [2]Helmuth G. Rönnefarth: „Die Sudetenkrise in der internationalen Politik: Entstehung – Verlauf – Auswirkung“, 2 Bde., Steiner, Wiesbaden 1961, Bd. 1, S. 219, zit. n.n Wikipedia über die Sudetenkrise, ebenda.
  • [3]Klaus Sator: „Das „Münchener Abkommen von 1938 und die Zerschlagung der Tschechoslowakei.“ In: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aktueller Begriff Nr. 30/2013, 27.9.2013, zit.n. Wikipedia ebenda.
  • [4]Wikipedia über das Münchner Abkommen, abgerufen am 20.1.2024.
  • [5]Diese vollmundige Aussage kopierte eine Äußerung des US-Politikers Benjamin Disraeli von 1878. Vgl. Wikipedia, 24.1.2024.
  • [6]Vgl. u.a. Bundesarchiv über das Münchner Abkommen, abgerufen am  20.1.2024.
  • [7]Vgl. Wikipedia über die Slowakei, abgerufen am 10.1.2024.
  • [8]Bruno Heilig, „Menschen am Kreuz", Berlin 1948.  Zit. n. Harry Stein „Juden in Buchenwald 1937 – 1942“, Hrg. Gedenkstätte Buchenwald 1992, Seite 31.
  • [9]Lebrecht, Franz, „Bericht über Erlebnisse während der Zeit des Dritten Reiches, - u.a. aus 4 Konzentrationslagern“ vom 10. April 1960 für die Wiener Library, London, Seite 16.
  • [10]Stein aao., Seite 33.
  • [11]Stein aao., Seite 33 Ziffer 58
  • [12]Noch ohne die 9.845 am 10. November verhafteten Aktionsjuden, die nach Buchenwald verschleppt wurden. Nach Dachau wurden 10.911 Männer gebracht, der Anteil der nach Sachsenhausen geschickten „Aktionsjuden“ wird auf 6.000 geschätzt, abgerufen am 2.1.204.
  • [13]Stein aao., Seite 35.
  • [14]Stein aao., Seite 36.
  • [15]Zit n. Stein aao., Seite 36/37.
  • [16]Hintergrund, Text und eine Aufnahme des Buchenwald-Liedes auf der Website der Gedenkstätte Buchenwald, abgerufen am 24.2024.

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