Übersetzung, Recherchen: Peter Dehn.
Leon Gottlieb war ein Freund von Heinz und Ida Dehn und ein Trauzeuge des gemeinsamen Freundes Franz Lebrecht. Sie lernten sich wahrscheinlich im KZ Dachau kennen und trafen sich in Australien wieder. Sein Bericht über seine Erlebnisse in drei Konzentrationslagern wird hier – wahrscheinlich erstmals in deutscher Sprache – im kompletten Umfang wiedergegeben. Es handelt sich um das undatierte Manuskript einer Sendung des australischen Radiosenders ABC. Es ist davon auszugehen, dass Kontakte von Internierten mit Medien durch die australische Militärzensur unterbunden wurden. Aus dem Text geht hervor, dass der Beitrag kurz vor Kriegsende entstand, also nach Ende der Dienstzeit Leon Gottliebs bei der australischen Armee im November 1942.
„Zwei Jahre in Nazi-KZs“
Von Leon Gottlieb
Seit Tagen wird in der Tagespresse über die Gräueltaten der SS in den Konzentrationslagern der Nazis berichtet. Unglücklicherweise tun viele Menschen, die diese Berichte lesen, vieles davon als „Propaganda“ ab. Ich bin ein deutscher Anti-Nazi, der zwei Jahre in drei der berüchtigten Lager, Sachsenhausen[1] Leon Gottlieb war im KZ Sachsenhausen mit der Nummer 139 im 19.2.1937 bis 13.3.1937 eingekerkert; Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen, Mail an Peter Dehn vom 11.8.2023., Dachau[2] Im KZ Dachau war er mit der Nummer 11855 vom 13. März 1937 bis 22. September 1938 inhaftiert; vgl. Archiv Arolsen. und Buchenwald[3] Im KZ Buchenwald war Leon Gottlieb vom 23.9.1938 bis zur Entlassung nach Hamburg am 14.2.1939 unter Nummer 8157 eingesperrt; vgl. Archiv Arolsen., verbracht hat, und ich kann Ihnen versichern, dass jede Zeile, die Sie lesen, absolut wahr ist; und darüber hinaus sind viele der Grausamkeiten, die ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, nicht druckbar und würden nicht durch die Zensur gehen. Für uns deutsche Anti-Nazis sind diese Grausamkeiten nicht neu, wir kennen sie seit März 1933, und Hunderte und Tausende von uns, die Gegner der Nazis, sind vor dem Krieg jahrelang durch diese Höllenlager gegangen.
Wenn Sie sich mit diesem Problem beschäftigen, vergessen Sie nicht, dass die ersten Opfer des Hitlerfaschismus das deutsche Volk und insbesondere seine liberalen, demokratischen und fortschrittlichen Elemente waren. Sie befinden sich bereits seit 12 Jahren in diesem Krieg und hoffen auf den endgültigen Zusammenbruch des Nazismus mit dem gleichen Eifer wie jedes Mitglied der Vereinten Nationen.
Ich möchte an einige Begebenheiten erinnern, die ich während meiner zwei Jahre in den Konzentrationslagern erlebt habe.
Nach meiner Verhaftung im Februar 1937 wurde ich von meiner Heimatstadt Hamburg in das Konzentrationslager Sachsenhausen[4] Wikipedia über das KZ Sachsenhausen, Website der Gedenkstätte Sachsenhausen, abgerufen am 10.9.2023. gebracht, wo ich drei Wochen lang in Einzelhaft war. Tag und Nacht hörte ich das Stöhnen der gequälten Männer. Ohne jeglichen Grund wurden wir brutal verprügelt. Nach drei Wochen, die mir wie Monate vorkamen, wurde ich in das Konzentrationslager Dachau[5] Wikipedia über das KZ Dachau und Website der Gedenkstätte Dachau, abgerufen am 10.9.2023. verlegt. Drei Tage vor meiner Ankunft wurde ein kleiner junger Jude in der Toilette seines Blocks von einem SS-Mann erhängt, nur weil er Jude war und jüdisch aussah. Ältere Männer, die nicht mehr in der Lage waren, schwere körperliche Arbeit zu verrichten, waren die Spielzeuge der SS.
Ich erinnere mich an einen Vorfall, bei dem ein Mann 12 Stunden lang in einem Betonmischer zu Tode gefoltert wurde. Er wurde in den Behälter gesteckt, der den Beton in die sich drehende Trommel oben befördert. Als er oben ankam und kurz vor dem Umkippen war, lösten die SS-Männer, die den Motor bedienten, die Bremse, und der Behälter mit seiner unglücklichen menschlichen Ladung stürzte krachend herunter. Dies geschah stundenlang, wobei die SS-Männer abwechselten, während einige herumstanden und das grausige Schauspiel mit großem Vergnügen beobachteten. Schließlich starb das Opfer an einem Schädelbruch.
Ein weiterer unvergesslicher Vorfall war die Verlegung von Gefangenen in ein spezielles Zellengebäude innerhalb des Lagers, wo sie bis zu 18 Monate lang in Zellen von etwa 6 Fuß mal 6 Fuß[6] Entspricht metrisch 1,83 mal 1,83 Metern. bei völliger Dunkelheit festgehalten wurden. Einer dieser Männer, ein Freund von mir, der Mathematiker war, konnte sich während seiner neunmonatigen Haft nur dadurch vor dem Tod retten, dass er mathematische Probleme, wie Lösungen quadratischer und kubischer Gleichungen, auswendig lernte.
Ein Mann in meinem Block, Ernst Heilmann[7] Der SPD-Spitzenpolitiker Ernst Heilmann, geboren 1881, wurde kurz nach der Machtübergabe an die Nazis im Juni 1933 verhaftet und musste neun KZs durchlaufen. Am 3. April 1940 wurde er im KZ Buchenwald ermordet. Offiziell täuschte die SS „Herzschwäche bei Herzfehler (Wassersucht)“ als Todesursache vor. Vgl. Wikipedia über Heilmann, abgerufen am 25.8.2023., der ehemalige Vorsitzende der Sozialdemokraten im Preußischen Landtag, wurde im KZ Esterwegen[8] Das KZ Esterwegen, westlich von Bremen hatte 15 Nebenlager, darunter das Lager Börgermoor, wo das Lied der „Moorsoldaten“ entstand; abgerufen am 15.10.2023., wo er sich vor seiner Verlegung nach Dachau befand, gezwungen, wochenlang in einem Hundezwinger zu leben. Daran angekettet musste er wie ein Hund essen und sich auch sonst wie ein Hund verhalten.
Bei vielen Anlässen wurden regelrechte Folterungen praktiziert. Aus irgendwelchen trivialen Gründen war unser Block vier Wochen lang gezwungen, stundenlang strammzustehen, nachdem wir abends von den Arbeitskommandos draußen zurückkamen. Es war eine stürmische Winterzeit und es schneite. Die SS-Männer beobachteten uns die ganze Zeit, um sicherzustellen, dass jeder Häftling mit den Fingern an der Hosennaht strammstand. Wagte es jemand, seine Finger ein wenig zu bewegen, wurde ihm mit Stiefeln mit genagelter Sohle auf die nackten, gefrorenen Hände getreten. Wir standen wie gefrorene Säulen, der schmelzende Schnee auf unseren Gesichtern gefror wieder zu Eis.
Im Sommer mussten die Gefangenen stundenlang ohne Kopfbedeckung in der prallen Sonne stehen; viele fielen in Ohnmacht und brachen mit einem Sonnenstich zusammen.
Abgesehen von diesen reinen Folterungen war die sogenannte „Arbeit“ eine ständige Tortur. Die Arbeit bestand aus Hacken und Schaufeln auf hartem Boden und dem Schieben von Schubkarren in rasendem Tempo. Kipploren, beladen mit 100 Pfund schweren Zementsäcken, mussten zu zweit im Laufschritt, an kalten, regnerischen Herbsttagen durch hüfthohe Kanäle, geschoben werden.
Häftlinge, die nicht schnell genug arbeiteten, wurden mit aufgepflanzten Bajonetten dazu gezwungen. Wenn dies nicht zum Erfolg führte, wurden die Namen der Häftlinge vom SS-Wachmann notiert und dem Lagerkommandanten gemeldet, der verschiedene Arten von Sonderstrafen für diese Häftlinge vorsah.
Es gab zwei Hauptarten der Bestrafung. Die erste war die öffentliche Auspeitschung, d.h. 25 Hiebe mit einem speziell präparierten Ochsenziemer. Der Gefangene wurde an ein Gestell gefesselt und sein Kopf wurde in Wolldecken gesteckt, um sein Stöhnen zu dämpfen. Die zweite Strafe war das Hängen an einer Stange. Dabei wurden dem Gefangenen die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und die Arme nach oben gestreckt. Dann wurde er bis zum Sprunggelenk an der Stange aufgehängt, so hoch, dass seine Füße den Boden nicht berührten. Nach einer Stunde Hängen, der üblichen Zeit, lösten sich die Arme aus den Gelenken und die Sehnen verloren ihre Elastizität. Diese Art der Tortur war besonders gefürchtet, weil der Häftling danach mit Händen arbeiten musste, die er aber manchmal tagelang nicht benutzen konnte.
Im Konzentrationslager Buchenwald[9] Wikipedia über das KZ Buchenwald, Website der Gedenkstätte Buchenwald, https://www.buchenwald.de/, Liste bekannter Häftlinge, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_H%C3%A4ftlingen_des_Konzentrationslagers_Buchenwald, abgerufen am 10.9.2023., über das in letzter Zeit so viel berichtet wird, wurden Auspeitschungen jeden Abend während des Appells durchgeführt.
Hier habe ich die schlimmsten Szenen erlebt, die ich je gesehen habe. Als im November 1938 Zehntausende Juden[10] Sofort nach der Pogromnacht am 9./10.11.1938 wurden 30.000 jüdische Männer („Aktionsjuden“) in die KZs Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Sie wurden gezwungen, Deutschland mit ihren Familien sofort zu verlassen. Unter ihnen war auch Levi Nussbaum aus Hannover. im ganzen Land zusammengetrieben wurden, brachte man etwa 10.000 von ihnen innerhalb von drei Tagen nach Buchenwald. Bei ihrer Ankunft mussten diese Männer im Alter von 13 bis 80 Jahren das Spießrutenlaufen vorbei an SS-Männern über sich ergehen lassen. Von beiden Seiten wurden sie getreten und mit Gewehrkolben traktiert. Viele Opfer brachen zusammen, bevor sie das Lager erreichten.
Ein weiteres grausames Schauspiel war die Hinrichtung eines Kommunisten namens Forster[11] Ob Peter Forster, Jahrgang 1911 und seit 1927 Mitglied der SPDnahen Jugendorganisation SAJ, tatsächlich im kommunistischen Widerstand kämpfte, ist laut Biografien aus SPDnahen Quellen unklar. Eine ausführliche Biografie, veröffentlichte die SPD Amberg, abgerufen am 20.8.2023., der ausgebrochen war und in der in der Tschechoslowakei von den Nazis, die dieses Land damals besetzt hielten, wieder gefangen genommen wurde. Wir wurden auf dem Appellplatz aufgestellt, 20.000 von uns. Der Kommandant verlas das Urteil und Forster wurde durch den Strang hingerichtet.
Während des Winters 1938/39 hatten wir durchschnittlich 25 Tote pro Tag zu beklagen, erfrorene, verhungerte und zu Tode gefolterte Männer. Ich wurde einem Sonderkommando zugeteilt, das die Leichen oder vielmehr das, was von ihnen übrig war, abtransportierte. Die Szenen, die ich während dieser Tage erlebt habe, sind zu grausam, um darüber zu sprechen. Aufgrund dessen, was ich Ihnen kurz über die Grausamkeiten der Nazis erzählt habe, die ich selbst zwei Jahre lang miterlebt habe, können Sie sicher sein, dass sowohl wir freien Deutschen als auch die Alliierten diese Grausamkeiten nicht vergessen werden; aber wir hoffen auch, dass die Alliierten die Deutschen nicht vergessen, die mit den Alliierten gekämpft haben, insbesondere diejenigen, die im aktiven Dienst bei den Briten und der Roten Armee waren.
Fußnoten
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- [1]↑Leon Gottlieb war im KZ Sachsenhausen mit der Nummer 139 im 19.2.1937 bis 13.3.1937 eingekerkert; Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen, Mail an Peter Dehn vom 11.8.2023.
- [2]↑Im KZ Dachau war er mit der Nummer 11855 vom 13. März 1937 bis 22. September 1938 inhaftiert; vgl. Archiv Arolsen.
- [3]↑Im KZ Buchenwald war Leon Gottlieb vom 23.9.1938 bis zur Entlassung nach Hamburg am 14.2.1939 unter Nummer 8157 eingesperrt; vgl. Archiv Arolsen.
- [4]↑Wikipedia über das KZ Sachsenhausen, Website der Gedenkstätte Sachsenhausen, abgerufen am 10.9.2023.
- [5]↑Wikipedia über das KZ Dachau und Website der Gedenkstätte Dachau, abgerufen am 10.9.2023.
- [6]↑Entspricht metrisch 1,83 mal 1,83 Metern.
- [7]↑Der SPD-Spitzenpolitiker Ernst Heilmann, geboren 1881, wurde kurz nach der Machtübergabe an die Nazis im Juni 1933 verhaftet und musste neun KZs durchlaufen. Am 3. April 1940 wurde er im KZ Buchenwald ermordet. Offiziell täuschte die SS „Herzschwäche bei Herzfehler (Wassersucht)“ als Todesursache vor. Vgl. Wikipedia über Heilmann, abgerufen am 25.8.2023.
- [8]↑Das KZ Esterwegen, westlich von Bremen hatte 15 Nebenlager, darunter das Lager Börgermoor, wo das Lied der „Moorsoldaten“ entstand; abgerufen am 15.10.2023.
- [9]↑Wikipedia über das KZ Buchenwald, Website der Gedenkstätte Buchenwald, https://www.buchenwald.de/, Liste bekannter Häftlinge, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_H%C3%A4ftlingen_des_Konzentrationslagers_Buchenwald, abgerufen am 10.9.2023.
- [10]↑Sofort nach der Pogromnacht am 9./10.11.1938 wurden 30.000 jüdische Männer („Aktionsjuden“) in die KZs Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Sie wurden gezwungen, Deutschland mit ihren Familien sofort zu verlassen. Unter ihnen war auch Levi Nussbaum aus Hannover.
- [11]↑Ob Peter Forster, Jahrgang 1911 und seit 1927 Mitglied der SPDnahen Jugendorganisation SAJ, tatsächlich im kommunistischen Widerstand kämpfte, ist laut Biografien aus SPDnahen Quellen unklar. Eine ausführliche Biografie, veröffentlichte die SPD Amberg, abgerufen am 20.8.2023.