Dunera

Ginette Rozenfeld

Der Familienname „Rozenfeld“ muss in der Familie Flieder bekannt gewesen sein. Warum sonst hätte Idas Halbbruder Izrael Flieder „Rozenfeld“ als Geburtsnamen seiner Stiefmutter Rosa genannt haben, obwohl das mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verwechselung ist? In den Unterlagen meiner Mutter Ida Dehn geborene Flieder findet sich ein an sie adressiertes Kuvert, abgeschickt im März 1964 von „Rozenfeld“ in Paris, Rue Caffarelli 16. Wer schrieb den leider fehlenden Brief? Obwohl die Zusammenhänge der Familien Flieder und Rozenfeld bisher nicht aufgeklärt werden konnten, scheint eine Verbindung besanden zu haben. Eine Kontaktaufnahme mit Ginette oder Verwandten bliebt leider erfolglos, zumal die für sie gefundenen Anschriften in Paris wahrscheinlich längst überholt waren. Dennoch könnte sich ein Kreis schließen.

Peter Dehn im Juni 2024.

Oft genug findet sich bei der Websuche Interessantes und Lesenswertes. In diesem Fall ist es ein Brief von Ginette Scher, die 1942 in Paris, Rue Caffarelli 16, wohnte. Ginette, geborene Rozenfeld, berichtet an Marc Dhuesme wie dessen Großvater Olivier sie während des rafle du Vel d’Hiv[1] Das „Wintervelodrom“ (Velodrome d‘Hiver) war der größte Sammelpunkt für die Massendeportationen von mehr als 13.100 Juden aus Paris in Vernichtungslager am 16. und 17. Juli 1942. Die Razzia (französisch: rafle du Vel d’Hiv) wurde ausschließlich von Franzosen durchgeführt. Vgl. undatierter Beitrag im Deutschlandfunk, abgerufen am 15.6.2023. am 16. Juli 1942 vor dem Vernichtungslager rettete. Dieser unglaubliche Mut und die resolute Frechheit des Olivier Dhuesme[2] Der undatierte Brief von Ginette Scher an Marc Dhuesme beschreibt das Geschehen, abgerufen 2021. haben mich tief bewegt und begeistert. Er ist ein Vorbild für jeglichen zivilen Widerstand gegen staatliches Unrecht. Unabhängig von der nicht geklärten Verwandtschaft sind Ginettes Geschichte und ihr Brief, erhalten zu werden und gehören auf dunera.de.

Hier lesen Sie Ginettes Brief über ihre Rettung vor dem KZ durch die mutige Solidarität ihres Nachbarn.

„Ich verstehe nichts und verstehe alles“

Monsieur,

Sie bitten mich um eine Aussage zugunsten Ihres Großvaters Olivier Dhuesme.

Ich antworte gerne, und wie Sie verstehen werden, sehr emotional.

In den 40er Jahren waren Monsieur Dhuesme, seine Frau und ihr Sohn Robert unsere Nachbarn. Wir haben mit ihnen im gleichen Haus gewohnt: Rue Caffarelli 16 im 3. Arrondissement. Die Dhuesmes wohnten im vierten Stock, meine Familie und ich im sechsten. Aber wir waren mehr als nur „Nachbarn“.

Wir standen uns nahe, wir halfen uns gegenseitig, wir wussten uns zu schätzen, wie sie beurteilen können.

Am 16. Juli 1942 fand, eine traurige Erinnerung, die Razzia im Vel d’Hiv[3] Wikipedia über das Velodrom, abgerufen am 10.6.2023. statt. Ich bin 14 Jahre alt, ich werde mit meinen Eltern, wie Dutzende andere jüdische Familien, von der Polizei in den Hof des Rathauses des 3. Arrondissements gebracht. Eine rätselhafte und erschütternde Versammlung, weil wir deren Zweck nicht kennen. Wir warten. Wir wissen nicht, was wir wollen, wohin wir gehen und ob wir überhaupt irgendwo hingehen. Das Rathaus ist voll. Wir warten.

Wir müssen warten und ich bin hier, in der Nähe meiner Eltern. Drängende Fragen, Angst: Dieser Moment, der ich-weiß-nicht-wie-lange dauert, ähnelt nichts Bekanntem.

Zufällig im Web gefunden: Ginettes Brief an den Sohn ihres Retters.

Plötzlich sehe ich, wie Monsieur Dhuesme den Hof betritt, begleitet von einem Polizisten. Dieses bekannte Gesicht, diese Person, die mich so gut kennt wie einen nahen Verwandten … Ich gehe ein Stück auf ihn zu, während er direkt auf mich zu geht. Unser Wortwechsel ist so kurz wie surreal und ich weiß nicht, ob ich mich an die genauen Worte erinnere, die er sagt. In zwei Sätzen höre ich, wie er mir sagt, dass er „mich hier rausholen kann“. Und er fragt mich, ob ich damit einverstanden bin, ihm zu folgen. Ich stimme zu. Ich folge diesem Mann, den ich kenne, weil ich genau weiß, dass es gefährlich ist, im Hof des Rathauses zu bleiben. Monsieur Dhuesme, ich und der Polizist betreten das ein paar Meter entfernte Büro für Judenfragen. Alles geht noch schneller. Monsieur Dhuesme erklärt, dass ich Französin bin, geboren auf französischem Territorium, in Paris am 6. Oktober 1928. Ich höre zu und verstehe Folgendes: Meine Eltern sind polnischer Herkunft (Rozenfeld), daher Ausländer und wurden rechtmäßig in den Hof des Rathauses bestellt, wo sich nur Ausländer versammeln sollen. Mein Fall sei anders: Ich bin 100 Prozent Französin und werde zu Unrecht zu den anderen gerechnet.

Nach diesem Argument fährt Monsieur Dhuesme fort und ich höre, wie er den Behörden vorschlägt, mich zu adoptieren. Er unterschreibt dann ein Dokument, das meine Adoption durch Monsieur und Madame Dhuesme offiziell bestätigt.

Ich verstehe nichts und verstehe alles und wir verlassen das Büro sehr schnell.

Auf der Straße fragt mich Monsieur Dhuesme, ob ich zurückgehen will, um mich von meinen Eltern zu verabschieden. Ich habe keine Zeit: Die Busse sind schon da, schon voll. Ich sehe meine Eltern, sehe sie an und sie mich und wir winken zum Abschied. In diesem Moment weiß ich nicht, dass ich meine Mutter zum letzten Mal sehe. Wir haben nur diese lächerliche und winzige Geste, um uns für immer zu verabschieden …Ich trenne mich also von meinen Eltern und kehre mit Monsieur Dhuesme in sein Haus, in unser Gebäude, zurück. Ein paar Tages später fahre ich mit Madame Dhuesme nach St.Quentin in den Urlaub.

Folgendes, mein Herr, hat Ihre Großvater für mich getan: Er hat mir das Leben gerettet, indem er mich am 16. Juli 1942 adoptierte. Und das ungeachtet der Konsequenzen, Repressalien und der Verfolgung, die ihm oder seiner Familie drohten. Er hat mich „vom Fleck weg“ adoptiert, was diese Reaktion erst möglich macht.

Ich könnte Ihnen nicht in einem einzigen Brief sagen, was der Krieg aus uns gemacht hat. Aber hier ist ein weiteres Beispiel für die Güte Ihres Vaters.

Aus Drancy[4] Wikipedia über das Lager Drancy, abgerufen am 10.6.2023. kehrt mein Vater zurück, nicht meine Mutter. Gemeinsam beginnen wir wieder das Leben in der Rue Caffarelli. Er arbeitet, ich gehe in der Rue Censier Daubenton zur Schule.

Jetzt ist Anfang 1944. Eines Tages rief mich eine Freundin an, die von einem Inspektor vor einer neuen Razzia in der Nachbarschaft gewarnt wurde.

Während sie mir rät, zu ihr zukommen und mich dort zu verstecken, rät sie mir auch, meinen Vater zu warnen, an diesem und den folgenden Abenden nicht nach Hause zu kommen. Was er tun wird.

Bevor ich die Wohnung verlasse und zu meiner Freundin flüchte, kommt mir der Gedanke, Leuchter, das silberne Besteck und andere Wertsachen schnell in eine Steppdecke zu wickeln. Mit dem großen Paket gehe ich zwei Etagen tiefer zu Monsieur und Madame Dhuesme. Ihnen vertraue ich das Bündel mit unseren Sachen und Erinnerungen an. Ich wähle sie schnell und sicher aus, denn diese Leute sind auch meine Familie, was immer geschehen mag.

Monate vergehen. Mein Vater und ich haben es in die freie Zone[5] Von der Regierung Petain, die mit den Faschisten paktierte, verwaltetes Gebiet in Südfrankreich, abgerufen am 10.6.2023. geschafft. Dann ist der Krieg zuende. Eines Tages kehren wir zu unserer alten Adresse zurück. Dort gibt Monsieur Dhuesme uns die schwere Daunendecke mit unseren Gegenständen und Erinnerungen unversehrt zurück.

Das Porträtfoto von Ginette lag dem Brief an Ida bei und entstand wahrscheinlich Anfang der 1960er Jahre. Familienarchiv Dehn.

Das, Monsieur, ist das Zeugnis, dass ich zugunsten Ihres Großvaters abgeben kann.

Dieser Mann, der während des Krieges inmitten eines antisemitischen Klimas keine Angst hatte, eine jüdische Teenagerin zu adoptieren, um sie vor dem Schlimmsten zu bewahren, gilt meine unendliche Dankbarkeit.

Ich hoffe, dass Ihre Aktivitäten zu seinen Gunsten erfolgreich sind, um die Erinnerungen zu milden und um die Liste der Guten, der Mutigen, der Gerechten zu verlängern. Monsieur Olivier Dhuesme war einen von ihnen!

Mit freundlichen Grüßen, Monsieur und einem Gruß an Robert, Ihren Vater und meinen lebenslangen Freund.


Hinweis: Für die Übersetzung aus dem Französischen danken wir Christiane Heiser-Zeiger.

Fußnoten

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  • [1]Das „Wintervelodrom“ (Velodrome d‘Hiver) war der größte Sammelpunkt für die Massendeportationen von mehr als 13.100 Juden aus Paris in Vernichtungslager am 16. und 17. Juli 1942. Die Razzia (französisch: rafle du Vel d’Hiv) wurde ausschließlich von Franzosen durchgeführt. Vgl. undatierter Beitrag im Deutschlandfunk, abgerufen am 15.6.2023.
  • [2]Der undatierte Brief von Ginette Scher an Marc Dhuesme beschreibt das Geschehen, abgerufen 2021.
  • [3]Wikipedia über das Velodrom, abgerufen am 10.6.2023.
  • [4]Wikipedia über das Lager Drancy, abgerufen am 10.6.2023.
  • [5]Von der Regierung Petain, die mit den Faschisten paktierte, verwaltetes Gebiet in Südfrankreich, abgerufen am 10.6.2023.

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