Dunera

Britische Deportationen
Teil 1

Mehr als 70.000 Deutsche und Österreicher konnten der Verfolgung durch die Nazis aus rassistischen oder politischen Gründen bis zum Beginn des 2. Weltkrieges entkommen. Sie gingen davon aus, im britischen Exil sicher zu sein. Viele wollten zum Kampf gegen den Nationalsozialismus beitragen. Nach der Eroberung Belgiens und der Niederlande durch die Nazi-Wehrmacht und der Kapitulation Frankreichs im Mai 1940 schürte die rechtsgerichtete britische Presse gezielt Ängste vor einer „5. Kolonne“, welche einen angeblich unmittelbar bevorstehenden Angriff Nazideutschlands auf das Königreich vorbereiten würde. Bald darauf ordnete Winston Churchill die Internierung tausender deutsch- und österreichstämmiger Menschen und eine Massenabschiebung an. Mit fünf Transporten wurden mehr als 10.000 Männer nach Kanada und Australien deportiert, bis öffentliche und parlamentarische Kritik dem ein Ende setzte.
Dass die schlechte Behandlung von geflohenen Juden und Antifaschisten durch die Briten auf diesen Seiten einigen Unmut des Autors erzeugt, bitte ich, nachzusehen.

Peter Dehn im Januar 2024.

„Ungerecht, unsere Freunde wie Feinde zu behandeln“?

Großbritannien war, schon wegen der Nähe zu Deutschland, ein beliebtes Fluchtland für Verfolgte auch aus dem annektierten Österreich. Die Solidarität war hoch – vor allem nach den mit Entsetzen aufgenommenen Gewalttaten der Pogrome vom November 1938. Rund 30.000 jüdische Männer wurden in den Tagen darauf kurzzeitig in die KZs Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Für die Freilassung wurde ihnen die Zusage abgezwungen, Deutschland kurzfristig zu verlassen, so dass diese Gruppe als besonders gefährdet[1] Vgl. u.a. diverse Biografien auf dunera.de. galt.

In Deutschland organisierten die jüdischen „Hilfsvereine“ Visa und Reisen für etwa 10.000 jüdische Männer. Etwa 4.000 wurden im Kitchener Camp[2] Vgl. Clare Ungerson „Four Thousand Lives. The Rescue of German Jewish Men to Britain, 1939“, The History Press Cheltenham 2019, Seite 16. Siehe auch die Website Kitchener Camp, betreut von Clare Weissenberg. untergebracht. Makaber die Namensgebung: Der britische Kolonial-General Herbert Kitchener[3] Vgl. Wikipedia über Lord Kitchener, abgerufen am 30.8.2023. (1850 – 1916) gilt als Erfinder der Taktik der „verbrannten Erde“ gegen Freiheitskämpfer und der „Konzentrationslager“, in denen während des Aufstands der Buren 26.000 afrikanische Frauen und Kinder an Hunger und Krankheiten ums Leben kamen.

Das Lager mit dem rassistischen Namen war als Durchgangslager konzipiert, denn viele Flüchtlinge, die nach der Kanalüberfahrt dort eintrafen, hatten Visa für Drittländer oder gute Aussichten darauf. Die ehemalige Kaserne bei Sandwich nahe der Kanalküste hatte fast 20 Jahre brach gelegen. Die Nutzbarmachung und der laufende Betrieb wurden ausschließlich aus Spenden finanziert. Unter dem Eindruck der „Reichskristallnacht“ hatte ein Flüchtlingsfonds[4] Laut Ungerson entsprach der in nur drei Monaten gesammelte Betrag 2019 immerhin 13,2 Mio. Pfund bzw. 15,44 Mio. € (Stand 2023). des ehemaligen Premierministers Lord Baldwin zwischen Januar und März 1939 erstaunliche 461.658 Pfund Sterling gesammelt. Dieser Betrag würde heute etwa 15 Mio. € (!) entsprechen.

Die Kindertransporte[5] Vgl. Wikipedia über die Kindertransporte, abgerufen am 20.8.2023. brachten zwischen November 1938 und dem Angriff der Nazi-Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 etwa 10.000 jüdische Kinder in Sicherheit, die nicht alle im Gastland anständig behandelt wurden. Viele Jungen der Jahrgänge 1920 bis 1924 wurden Mitte 1940 nach Kanada oder Australien deportiert, Mädchen wurden auf der Isle of Man interniert. Viele waren im Holocaust die einzigen Überlebenden ihrer Familien.

Viele Exilanten wären gerne weitergereist. Sie hatten Visa für die USA oder Südamerika oder ihre Anträge dafür liefen. Der Krieg erschwerte naturgemäß solche Reisen. Zudem durften die Juden aus Deutschland nur 10 Reichsmark und keine weiteren Vermögenswerte mitnehmen, so dass sie eine Reise nach Übersee nicht finanzieren konnten. „Weil der Krieg tobt sind diese Leute jetzt wie ein Vogel im Käfig“, beschrieb der Labour-Abgeordnete Davies im Unterhaus[6] Davies im Unterhaus am 22.8.194, abgerufen am 2.9.2023. am 22.8.1940, abgerufen am 2.9.2023. (1877 – 1954) ihre Situation.

Tausende Naziopfer wurden verhaftet

Sofort nach Kriegsbeginn wurden zunächst viele deutsche Staatsbürger verhaftet und in Lagern inhaftiert, die als Repräsentanten deutscher Firmen oder Beschäftigte internationaler oder britischer Unternehmen in England und seinen Kolonien arbeiteten. Von Ende September 1939 bis Februar 1940 hatte die Ausländer-Abteilung des britischen Innenministeriums 74.233 Menschen[7] Vgl. Blog des The National Archives (UK) vom 2.7.2015, abgerufen am 25.8.2023. ab dem 16. Lebensjahr in 120 Tribunalen verhören lassen, die dem Deutschen Reich zugeordnet wurden. Darunter waren auch Österreicher und Tschechen, deren Heimatländer die Nazis zuvor besetzt hatten, weshalb sie als Deutsche geführt wurden. Das betraf auch die Juden, denen die Nazis zuvor die Staatsbürgerschaft entzogen hatten.

Die Interviews führten zur Einstufung der Befragten in drei Kategorien. Ein Bericht der „Times“ über eine Rede des Innenministers John Anderson[8] „The Times“ vom 2.3.1940 zit. nach Rainer Radok, „Von Königsberg nach Melbourne“, Kap. 11, abgerufen am 20.7.2023. vor dem Unterhaus, der spätere US-Hauptankläger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess Robert M.W. Kempner[9] Robert M.W.Kempner „The Enemy Alien Problem“, 1942. Zit. nach Stibbe/Wünschmann „Internment practises during the First and Second World Wars. A comparison“. In Anderl et. al „Interment Refugee Camps“. Bielefeld, 2022. ISBN 978-3-8376-5927-6 (print). sowie digital, abgerufen am 20.8.2023. und weitere Quellen stellen übereinstimmend fest, es habe sich um 62.244 Deutsche und 11.989 Österreicher gehandelt, die im Vereinigten Königreich polizeilich gemeldet waren. Von ihnen wurden 55.457 als Juden und Flüchtlinge vor der Nazi-Verfolgung der Kategorie „C“ zugeordnet. Nur 569 Personen bekamen als tatsächlich dringend verdächtige oder überführte Nazi-Sympathisanten die Kategorie „A“ und wurden interniert. Personen der Kategorie „B“ blieben zwar auf freiem Fuß, jedoch wurden ihre Bewegungsrechte stark eingeschränkt und sie durften weder Fotoapparate noch Fahrräder besitzen.

Fragwürdige Tribunale

Mehrere Quellen weisen jedoch nach, dass die Tribunale nach unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Kriterien urteilten und fragwürdige Entscheidungen trafen. In einer umfangreichen Arbeit nennt der Zeitzeuge Louis Eleazar Gutmann-Polangen[10] Louis Eleazar Gutmann-Polangen veröffentlicht in „Arandora Star Victims. A Supplement to the White Paper“, Seite 7f, o.J., abgerufen am 20.8.2023. die Tribunale ein „Versagen“, das damit begann, dass Innenminister John Anderson ihnen keine präzisen Kriterien für die Eingruppierung gegeben habe. In der Folge hätten Fragen der nationalen Sicherheit keine Rolle gespielt. „Sie internierten Nazis oder deren Sympathisanten nicht, welche zuvor von Scotland Yard interniert worden waren.“ Gutmann-Polangen berichtet auch über Menschen, die aufgrund von Denunziationen in die Gruppe „A“ zu Feinden erklärt wurden. „Junge Flüchtlinge wurden wegen ihrer Arbeitslosigkeit interniert.“ Als eklatante Fehlentscheidung beschreibt er die „A“-Einstufung des jüdischen Filmproduzenten Friedrich Weiss aus Wien, zu dessen Befragung die Zurkenntnisnahme von Zeugenaussagen oder Dokumenten verweigert worden war.

Gutmann-Polangen selbst wurde laut seinem Bericht in einer Art und Weise befragt, die nur als eindeutig antisemitisch zu bezeichnen ist. Im Tribunal Nr. 8 stellt ein Ronald Burrows[11] Ebd. S.8. ihm u.a. folgende Fragen: „Hatten die Juden nicht die Übernahme der Macht durch Hitler verteidigt?“ „Warum haben Sie Deutschland schon im April 1933 verlassen; die Juden konnten doch 1933 und 1934 leben wie vorher?“ und, mit Bezug auf den Journalisten-Beruf des Befragten: „Als sozialdemokratische Zeitungen verboten wurden, hätten Sie für Hitler schreiben können.“ Die deutliche Pronazi-Tendenz, hätte die Gestapo wahrscheinlich ähnlich formuliert. Dass dieses Verhör am 9. November 1939 geführt wurde – also am Jahrestag der Pogromnacht – verstärkt das Entsetzen über die Kräfte, die in den Tribunalen mitmischten. Laut Berichten und Personalakten urteilten die Tribunale höchst unterschiedlich. Einige sprachen Einstufungen grundsätzlich in „C“, andere nur in „B“ aus. Frauen, die Jobs in privaten Haushalten gefunden hatten, wurden mancherorts pauschal mit der Kategorie „B“ als verdächtig gebrandmarkt.

Auch Eric Koch[12] Zit. n. Eric Koch, „Deemed Suspect. A Wartime Blunder“, Toronto 1980, Seite 9/10. beschreibt die Tätigkeit der Tribunale kritisch: Er gibt die Zahl der in die Kategorie „C“ eingestuften, also von der Internierung befreiten, Personen mit 64,200 an. Zu Recht fragt er, warum aber nur 51.200 als „Flüchtlinge vor der Naziverfolgung“ bezeichnet wurden. „Warum bekamen 13.000 ‚Befreundete aus feindlichem Ausland‘ (friendly enemy aliens) in der Kategorie C keinen Stempel als ‚Flüchtlinge vor der Nazi-Verfolgung‘? Wer waren sie? Warum wurde eine signifikante Zahl wirklicher Flüchtlinge in die Kategorie A eingestuft? Und wer genau war für die Kategorie B qualifiziert?“

Die Tribunale erledigten ihren Job „gewissenhaft und pünktlich“, kommentiert Koch. Und sie „spiegelten zweifellos den Zustand der öffentlichen Meinung wider – oder zumindest die Meinung der sozialen Schicht, aus der diese King’s Counsels (Berater des Königs) stammten.“ Koch setzt fort: „Aufgrund der Tatsache, dass die Tribunale über einen großen Ermessensspielraum verfügten, ließen einige von ihnen beispielsweise ihre antibolschewistische Voreingenommenheit walten, indem sie alle Veteranen der Internationalen Brigade, die den Faschismus in Spanien bekämpft hatte, für verdächtig erklärten.“ Das widerfuhr ebenso Menschen, die aufgrund ihres Widerstands gegen Hitler in KZs eingesperrt waren. Koch nennt eine Reihe konkreter fragwürdiger Entscheidungen. Darunter ist ein Ehepaar, das als Kommunisten eingestuft und interniert wurde, weil sie sich als Unterstützer der Weimarer Republik bezeichneten.

Nach vier Jahren in KZs wurde der Kommunist und ehemalige Reichstagsabgeordnete Karl Olbrysch in der Kategorie „A“ den Nazis gleichgestellt. Für ihn und etliche Juden und Antinazis bedeutete das die Abschiebung[13] Peter und Leni Gilllman „‘Collar the Lot!‘ How Britain Interned And Expelled its Wartime Refugees“, London 1980, Seite 45. auf der Arandora Star und für 146 Deutsche und Österreicher und 453 Italiener den Tod als Opfer des deutschen U-Bootes U-47.

Die wahre 5. Kolonne des Nazi-Reiches

Bereits 1939 kam der Begriff der „5. Kolonne“ in die britische Debatte. Das war der Titel eines gerade veröffentlichten Romans von Ernest Hemingway über den Bürgerkrieg in Spanien. Die britischen Historiker Peter und Leni Gillman fanden eine erste „Medien“-Erwähnung in der Zeitung „Sunday Dispatch“ vom 4. Februar 1940, in dem eine linke Partei und eine pazifistische Organisation mit der Propaganda-Lüge[14] Gilllman aao. Seite 74ff. verleumdet wurden, in ihren Reihen warteten 2.000 Subversive auf Anweisungen aus Moskau.

Dass dieses Blatt und die „Daily Mail“ weniger gegen die Nazis kämpften, sondern Gewerkschafter, Kommunisten, Pazifisten usw. (nach Kriegsbeginn alibihalber auch die britischen Faschisten) als Feinde des Landes diffamierten, wundert nicht. Beide Zeitungen waren im Besitz von Lord Rothermere. Er hatte in den 1930er Jahren „seine offene Unterstützung für Hitler, Mussolini und die britischen Faschisten“ bekundet, eine Kampagne gegen das internationale Judentum („Israelites of international attachments“) geführt und den Einmarsch der Nazis in Österreich[15] Zit. n. Gillman aao., Seite 79. verteidigt.

In seinen Zeitungen hetzte Lord Rothermere (Foto) gegen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich. Mit der rassistischen Forderung, es sollte „slawischen Tschechen nicht erlaubt sein, über ‚noble‘ Völker wie die Sudetendeutschen zu herrschen“ stellte er sich in den 1920ern und wie im Auriss mit seinen Zeitungen u.a. 1934 an die Seite der britischen Nazipartei „Schwarzhemden“.
Quelle: Wikipedia, Montage: pd.

Nun lenkte er die britische Öffentlichkeit von der 5. Kolonne der Nazis im Lande ab, indem seine Presse Naziopfern und Antifaschisten mehr oder weniger direkt unter diesem Etikett beleidigte. Zum Beispiel wurde im „Sunday Dispatch“ am 7. April 1940 die finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge[16] Gilllman aao., Seite 74ff. aus der Tschechoslowakei mit der Schlagzeile quittiert: „Der große Ausländer-Skandal – Unser Geld für kommunistische Propaganda“. So betriebdie wahre 5. Kolonne Hitlers[17] Zit. n. Gillman aao., Seite 79. die Verunsicherung und Manipulation der Stimmung in Großbritannien.

Es gab aber auch seriöse Gegenstimmen. So erinnerte die „Times“ am 23. April 1940 daran, dass die meisten „aliens“ in Großbritannien Zuflucht vor der Verfolgung durch die Nazis gesucht hatten. Etwa zeitgleich verglich der „Daily Express“ die fremdenfeindliche Kampagne „mit den Hexenjagden im New England des 17. Jahrhunderts“ und rief auf: „Alle liberal denkenden Menschen, alle die Freiheit und Frieden hoch bewerten, sollten gegen jedes Wiederaufleben der Hexenjagden[18] Zit. n. Gillman aao., Seite 80. stehen, egal, welche Formen das annimmt.“

Den Einstieg der Politik in die Rothermere-Kampagne verbinden die Gillmans mit dem Konservativen Unterhausabgeordneten Eugene Ramsden. Er sprach auf einer Parteiveranstaltung am 19. April 1940 von einer „5. Kolonne“ von Leuten, „die die Nazis unterstützen, oder welche das tun würden, wenn sie die Gelegenheit hätten“. Wenige Tage später zog eine Gruppe von Konservativen das Thema im Unterhaus hoch. Zugleich klinkte sich Innenminister John Anderson[18] Zit. n. Gillman aao., Seite 80. (1882 – 1958) ein. Am 26. März 1940 nahm er in einem privaten Brief die Ausrede für das spätere Handeln der Regierung vorweg: „In Kriegszeiten sind die Menschen leicht zu erregen und ein Spionageschreck kann jederzeit als ‚Kunstgriff‘ (im Original: „stunt“) ausgelöst werden.“

Naziopfer – eine „Bösartigkeit in unserer Mitte“?

„Doch im Mai 1940 verschwindet es (das Thema der Internierungen, pd) fast vollständig aus der Öffentlichkeit. Das ist die Zeit, in der Argumente und Motive am Verrufensten waren und die Manöver im Herzen der Regierung äußerst unheimlich waren. (…) Der Untergang der Arandora Star hob diese Geheimhaltung auf und brach diese Macht“, kommentieren die Gillmans[19] Zit. n. Gillman aao., Seite 5..

Die Propaganda-Ruhe bleibt nur eine kurze Erscheinung. Wie die rechte Presse Stimmung machte, belegt die Daily Mail[20] Zit. n. Eric Koch, Seite 12/13. vom 24. Mai 1940: „Die Verhaftung feindlicher Ausländer muss aus den Händen der örtlichen Tribunale genommen werden. Alle Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland, Frauen wie Männer, sollten unverzüglich in einen abgelegenen Teil des Landes gebracht und unter strenger Aufsicht gehalten werden.“ Der Autor krönt seine unverhüllte Forderung nach KZs nazideutschen Vorbilds für Ausländer mit dem angeblichen Zitat eines Diplomaten: „In England habt ihr die Feststellung versäumt, dass jeder Deutsche ein Agent ist.“

Winston Churchill[21] Wikipedia über Winston Churchill, abgerufen am 25.8.2023. (1874 – 1965) hatte am 10. Mai 1940, dem Tag des Angriffs der Wehrmacht auf Belgien und die Niederlande, Neville Chamberlain aus dem Amt als Premierminister gedrängt.

Neville Chamberlain aus dem Amt als Premierminister gedrängt. Chamberlain hatte im September 1938 das Münchner Abkommen mit Hitler unterzeichnet, damit die territoriale Integrität der Tschechoslowakei verraten und die Tür zum „Anschluss“ Österreichs durch das Nazireich geöffnet. Der abgewählte Politiker blieb freilich als „Lord President of the Council“ weiter Mitglied des Kriegskabinetts und mit den Internierungen befasst.

Churchill, dem man keinesfalls politische Unerfahrenheit unterstellen kann, setzte den „Kunstgriff“ um, übernahm die pauschalen Hasstiraden und kolportierte die beleidigende Lüge, bei allen Deutschen – einschließlich der Flüchtlinge und Naziverfolgte – handele es sich um verkappte Nazis. So machte er Stimmung im Unterhaus:

Sir Winston Churchill.
Quelle Imperial War Museum HU 55521.

„Ich fühle nicht die geringste Sympathie. Das Parlament gab uns die Macht, die 5. Kolonne mit starker Hand nieder zu halten und wir werden diese Befugnisse vorbehaltlich der Aufsicht und Korrektur des Parlaments ohne das geringste Zögern nutzen, bis wir überzeugt sind – und mehr als zufrieden –, und mehr als zufrieden, dass diese Bösartigkeit in unserer Mitte wirksam ausgerottet wurde“.

Winston Churchill am 4. Juni 1940[22] Churchill-Rede vom 4. Juni 1940. Zit. n. Richard M. Langworth „Churchill, Refugees, and Aliens“, abgerufen am 25.8.2023..

Ein Symbol der Sklaverei

Dem folgte der Premier mit der vielzitierten Äußerung „collar the lot[23] Laut „Churchill, Refugees, and Aliens“, aao., ist weder das eine noch das andere Zitat im Wortlaut tatsächlich als von Churchill stammend verbürgt.“ oder „collar them all“. Der Begriff „collar“ wurde sinnbildlich für den „Kragen“ oder Halsreif aus Eisen verwendet, mit dem man u.a. bis ins 19. Jahrhundert hinein Sklaven, Hexen oder Kriminelle[24] England schaffte die Sklaverei 1833, die USA 1865 ab. In Preußen wurde Sklaverei 1857 verboten. Als Sklaverei im weiteren Sinn kann auch die von den Nazis eingeführte Zwangsarbeit von Häftlingen und Ausländern betrachtet werden. Vgl. Wikipedia, abgefragt am 2.9.2023. öffentlich markierte. Beide Varianten laufen darauf hinaus, „das Ganze“ bzw. „alle“ einzusperren.

Die direkte Konsequenz aus diesem politischen Rundschlag war die Verhaftung bzw. Internierung aller Deutschen, Österreicher und Tschechen, unabhängig vom Ergebnis der Tribunale und sogar von Deutschstämmigen, die zweiter oder dritter Generation im UK lebten.

Massenhafte Internierungen

Durch „die Internierung sowohl von Männern wie von Frauen, ungeachtet ihres Alters und ihrer Nationalität, die dem Feind dienstbar sind oder dienstbar sein könnten“ wolle man „die Tätigkeit der fünften Kolonne in diesem Lande unterdrücken“, steigerte Churchills Minister Thomas Inskip[25] House of Lords, Protokoll vom 12.6.1940, abgerufen am 25.8.2023., 1. Viscount Caldecote, im House of Lords am 12. Juni 1940 die pauschale Diffamierung noch mit der unverschämten Unterstellung, dass Flüchtlinge dem Feinde „dienstbar sein könnten“, auch wenn (oder gerade weil?) man ihnen nichts nachweisen kann.

Im gleichen Atemzug stellte Inskip indirekt die Loyalität der aus dem Reich geflüchteten Antifaschisten infrage, die den Nazistaat von Großbritannien aus bekämpften – z.B. als Sprecher des deutschen BBC-Dienstes. Der Minister verlangte zudem die Kontrolle des staatsunabhängigen Senders[26] Ebenda. durch die Regierung. Sowohl die von Inskip forcierte Inhaftierung „potenzieller“ Feinde als auch seine Forderung nach staatlicher Kontrolle des Rundfunks hatten zu der Zeit bekanntlich ein Vorbild in Europa.

Indem Churchill und Verbündete viele Nazi-Opfer und wenige Nazis in einen Verbrechertopf warfen, wurden die Beurteilungen der 120 „Tribunals“ ad absurdum geführt. Die Zahl der internierten „enemy aliens“ stieg auf ca. 27.000. Unter den 16- bis 60jährigen Internierten waren nicht wenige, die den Nazis mit Unterstützung der Hilfsvereine oder mit den Kindertransporten entkommen waren und sich in Großbritannien geschützt vor Verfolgung fühlten. Nun wurden sie dort „in Eisen“ gelegt.

Kritische Stimmen, auch aus der Regierung, waren ignoriert worden. So hatte der Unterstaatssekretär im Innenministerium Osbert Peake[27] Peake im Unterhaus am 29.5.1940, abgerufen am 2.9.2023. – im Grunde gegen seinen Chef Anderson – schon am 29. Mai 1940 im Unterhaus das Problem beschrieben: Es habe konkrete Fälle gegeben, jedoch „nicht von Flüchtlingen, die feindliche Handlungen begangen haben, (…) sondern von deutschen Agenten, die sich als Flüchtlinge ausgaben.“

Nach der Kriegserklärung[28] Vgl. Wikipedia zur Kriegserklärung vom 10.6.1940, abgerufen am 20.8.2023. des faschistischen Mussolini-Regimes am 10. Juni 1940 wurden auch Italiener interniert oder als Kriegsgefangene eingesperrt. „Wir hatten eine gewissen Martinez, der Chef der Kabel- und Reifenfabrik Pirelli war und der mehr über Waffen wusste, als die meisten – es gab viele, die ohne jede Befragung zusammengetrieben wurden“, erinnert sich der junge Soldat Merlin Scott[29] Zit n. Gillman aao., Seite 215/216.. Den Italienern sei verboten worden, ihre Verwandten zu informieren, so dass sie erst Monate später von den Deportationen erfuhren.

Deportationen im War Cabinet: Ex-Premierminister Chamberlain verweist darauf, dass bisher für Militärtransporte vorgesehene Schiffe nun Internierte nach Kanada und Kinder nach Nordamerika transportieren sollen. Der Schifffahrtsminister R.H. Cross setzt fort, dass ein erster Transport mit 3.000 Internierten am gleichen Abend ablegen wird und zwei weitere in den nächsten Tagen folgen sollen und das die Deportation von Internierten und Kriegsgefangenen wichtiger als die Evakuierung von Kindern ist. Viscount Caldecote, Minister für die Kolonien, teilt mit, dass Kanada über die Vereinbarungen hinaus keine weiteren Menschen aufnehmen will. Das Kriegskabinett beschließt, die anderen „Dominions“ zu fragen, on sie Internierte oder Kriegsgefangene aufnehmen werden. So geschehen im britischen Kriegskabinett am 21. Juni 1940.
Quelle: The National Archives, CAB-65-7-69, Blatt 542.

Ab dem 24. Juni 1940 waren bis zu 27.200 Menschen[30] Gillman aao. Seite 175, nennen einige Namen. in provisorischen Lagern, verteilt über das ganze Land, interniert worden. Über die Unterbringung z.B. der in Huyton bei Liverpool eingesperrten Deutschen und Italiener berichtete die BBC: „Die Bedingungen in diesem Lager scheinen sehr schlecht gewesen zu sein. Die Insassen lebten in Zelten und mussten ihre Schlafstellen aus Stroh[31] Vgl. BBC Liverpool vom 24.9.2014, abgerufen am 20.8.2023. selbst herstellen.“ Ein weiteres bekanntes Lager befand sich in Seaton bei Exeter an der östlichen Kanalküste. In mehreren Orten der Isle of Man[32] Wikipedia über die Internierungen in Großbritannien, abgerufen am 25.8.2023. wurden ganze Straßenzüge geräumt, um als Lager zu dienen. Für die jüdischen Internierten waren dort nur Strohsäcke vorhanden. Der „Seeblick“ wurde durch Stacheldraht verunziert. Im Süden der Insel wurden Frauen und Kinder untergebracht. Kriegsgefangene Diplomaten wurden hingegen in der Villa Dunluce House mit eigenem Strand bei Ramsey hotelähnlich beherbergt.

Das Kitchener Camp war im Mai/Juni 1940 aufgegeben[33] Vgl. Ungerson aao. worden, weil es aufgrund seiner Lage nahe der Kanalküste vom Militär beansprucht wurde. Die dort Internierten wurden auf andere Lager, vorwiegend auf der Isle of Man, verteilt.

Alles muss raus? Massenabschiebungen mit fünf Schiffen

Die britische Regierung hatte es überaus eilig, sich der unerwünschten „enemy aliens“ zu entledigen, obschon die meisten Freunde Großbritannien waren. Ab Juni 1940 wurde mit Kanada und Australien über die Aufnahme tausender Zivilinternierter und Kriegsgefangener verhandelt. Südafrika hatte das abgelehnt. Am 24. Juni 1940 ging der erste von fünf Transporten auf die Reise nach Übersee. Der britische Hochkommissar in Australien, Sir Geoffrey Whiskard[34] Sir Geoffrey Whiskard am 15.6.2023 an die Regierung Menzies, zit.n. Juden in Themar, abgerufen am 30.8.2023., teilte der australischen Regierung am 15. Juni 1940 mit, die Gesamtzahl der männlichen deutschen Internierten belaufe sich auf über 12.000, wovon 2.500 mit den Nazis offen sympathisierten oder ihnen verbunden seien. Sie stellten eine Gefahrenquelle dar, falls es zu Fallschirmabsprüngen oder einer Invasion kommen sollte. Zusätzlich gäbe es bereits ungefähr 3.000 deutsche Kriegsgefangene, unter ihnen solche, die auf Schiffen unter deutscher Flagge aufgegriffen wurden.

Am 1. Juli fragte die australische Regierung zurück, mit was für Personen sie zu rechnen hätte. „Unter der Voraussetzung, dass wir möglichst bald nähere Einzelheiten über die ersten 4.000 Personen erhalten, sind wir in der Lage, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen, um sie in ungefähr sechs Wochen in Empfang zu nehmen.“ Australiens Premierminister Robert Menzies erklärte tags darauf, maximal 6.000 Personen zu akzeptieren.

Der britischen Regierung konnte es nicht schnell genug gehen. Chamberlain hatte das War Cabinet sofort am 3. Juli 1940 über den Plan informiert, schon am 7. Juli ein Schiff nach Australien zu schicken. Es handele sich um den (für 1.500 Soldaten zugelassenen) Militärtransporter HMT Dunera. „Chamberlain informierte das Kabinett, dass sie 3.000 Internierte nach Australien[35] Gillman aao., S. 210.“ bringen würde.

Am 9. Juli 1940[36] Ebenda. drückte Whiskard aufs Tempo und kündigte der australischen Regierung an, „2.700 Männer zu schicken, die Großbritannien am 10. Juli verlassen werden“. „Weitere 2.600 Männer, Frauen und Kinder (folgen) am 16. Juli. Ein zusätzliches Schiff wird Großbritannien am 16. Juli verlassen, das 1.700 Personen aufnehmen kann. Ist die Commonwealth Regierung bereit, 500 dieser Personen aufzunehmen? Die Regierung von Neuseeland wird gebeten, weitere Personen zu übernehmen.“

Viele der späteren Dunera Boys wurden über das Ziel der Reise und ihre Aussichten von kommandierenden Offizieren der britischen Internierungslager nach Strich und Faden belogen. „Uns wurde gesagt, dass wir, wenn wir aufs Schiff gingen, sogleich nach dem Eintreffen freigelassen werden“, erinnert sich DuneraBoy Henry Teltscher[37] Gillman aao., S. 211.. So wurden freiwillige Meldungen für die Deportationen ergaunert.

Den auf der Isle of Man internieren Ehefrauen wurde seitens der Lagerkommandantin Dame Joanna Cruickshank (1875 – 1958) in Aussicht gestellt, sie könnten mit den Kindern ihren Männern bald nach Australien folgen. Eine Gruppe von andernorts auf der Isle of Man internierten Ehemännern erklärte vor diesem Hintergrund dem Kriegsminister Anthony Eden per Telegramm ihre Bereitschaft, die Gefahren einer Überfahrt[38] Gillman aao., S. 211/2. mit ihren Familien teilen zu wollen.

Seeblick mit Stacheldraht: Die Isle of Man, hier Camp Ramsey, war für viele Internierte Juden und Nazigegner eine Zwischenstation vor der Abschiebung nach Kanada oder Australien.
Quelle: Screenshot aus dem Film „WW2 Internment in the Isle of Man“ von Culture Vannin.

Ungeachtet der noch nicht abgeschlossenen Verhandlungen mit Australien war der erste Transport dorthin weit über die Planung hinaus. Die Dunera stand in Liverpool für die ursprünglich am 7. Juli geplante Abreise (s.o.) bereit. Die Terminverschiebung resultiere aus dem Wunsch Chamberlains, Wünschen des Innenministers Anderson[39] Ebenda. entgegen zu kommen, heißt es weiter.

Die für die Dunera vorgesehenen Internierten waren längst ausgesucht und auf dem Weg dorthin oder harrten im Lager Huyton bei Liverpool als Zwischenstation der ihnen unbekannten zugedachten Dinge. So legte die Dunera am 10. Juli 1940 zu ihrer Skandalfahrt ab. Zu den anderen von Whiskard geplanten Transporten kam es nicht mehr.

Dramatisierende Zahlen

Den Behörden und Medien der beiden Aufnahmeländer war mitgeteilt worden, sie bekämen es im Wesentlichen mit Kriegsfangenen oder Internierten der Kategorien „A“ oder „B“, also mit Nazis, zu tun. Mit fünf Schiffen wurden zwischen dem 24. Juni und dem 10. Juli 1940 mehr als 11.000 Männer[40] Michael Hallerberg, „Darstellung und Wahrnehmung von deutschen Kriegsgefangenen in Kanada, 1940-46“, Dissertation, Osnabrück 2019, Seite 42f. abgeschoben. Von ihnen waren nur bis zu 2.500 der Kategorie „A“, also offiziell als Nazis oder deren Parteigänger geführte Männer.

Unter den 6.753 Internierten der SS Duchess of York, der SS Ettrick und der Arandora Star hätten sich „2108 zivilinternierte Deutsche und Österreicher der Kategorie ‚A‘, 2290 zivilinternierte Deutsche und Österreicher der Kategorien ‚B‘ und ‚C‘“ befunden, entnimmt Michael Hallerberg einem Memorandum[41] Ebenda. der Briten an Kanadas Regierung vom 28. Juli 1940. Warum Angaben zur SS Sobieski fehlen, bleibt unbekannt. Hallerberg verweist aber auf das o.g. Chamberlain-Memorandum.

Dieses offizielle Papier zeigt aber auch, wie über den Charakter der Massendeportationen hinweggetäuscht wurde. Die o.g. Angaben zur Zahl der Deportierten der Kategorie „A“ betragen das Dreieinhalbfache der von den Tribunalen offiziell in diese Kategorie eingestuften 569 Personen. Die Differenz entstand, weil alle seit Kriegsbeginn festgesetzten Seeleute der deutschen Handelsmarine ungeprüft automatisch unter „A“ als Nazis eingestuft[42] Vgl. Gillman aao., S. 169. wurden. So bekam man eine hohe Zahl von Feinden zusammen, um in Kanada die Dringlichkeit der Deportation „feindlicher“ Personen und deren Umfang zu dramatisieren.

Verfolgte und Verfolger in einem Topf

Bis zum 15. Juli 1940 wurden rund 1.700 Angehörige der deutschen Handelsmarine (Kategorie „A“), 2.700 Internierte (Kategorien „B“, „C“), 400 Italiener und 1.950 Kriegsgefangene – zusammen also 6.750 Männer – nach Kanada deportiert. Hätte die Arandora Star ihr Ziel unbeschadet erreicht, wären es 2.200 Seeleute, 1.700 Internierte, 1.100 Italiener und 1.400 Kriegsgefangene – zusammen also 6.400[43] Gillman aao., S. 205f. gewesen, errechneten die Gillmans. Sie stellten aber auch fest, dass Angaben Chamberlains am 3. Juli 1940 im War Cabinet fehlerhaft waren. Er hatte u.a. erklärt, an Bord der Ettrick hätten sich ausschließlich „B“-Internierte befunden. Tatsächlich wurden auf diesem Schiff etliche „C“-Internierte – also von den Briten selbst nachgewiesene Nazigegner bzw. befreundete Ausländer[44] Gillman aao., S. 206. – nach Übersee gebracht. Unterstrichen wird das durch die Recherchen von Gutmann-Polangen, der nach eigener Kenntnis mehr als 130 Kurzbiografien von Nazi-Verfolgten unter den „Passagieren“ der Arandora Star dokumentiert.

Viele von ihnen führten sich durch die unmittelbare Nähe von Nazis auf den Deportations-Schiffen bedroht. Das bestätigte von der anderen Seite her der Luftwaffen-Oberst Georg Friemel[45] Hallerberg aao., Seite 61., indem er such in Kanada darüber beschwerte, „dass die Ehre der deutschen Soldaten durch die Unterbringung zusammen mit Juden, ‚Vaterlandsverrätern‘ (Nazigegnern, z.B. Kommunisten oder Sozialdemokraten, pd) systematisch beleidigt“ worden sei. Die britischen Behörden erwiesen den Nazigegnern keinerlei Respekt und gedachten nicht, sie nicht vor Übergriffen von Nazis zu schützen.

Insgesamt wurde mit diesen Massenabschiebungen in vielerlei Hinsicht gegen internationale Abkommen verstoßen – vor allem die Genfer Konvention. Die massenhaften Inhaftierungen und Abschiebungen, einzig aufgrund eines pauschalen Verdachts gegen eine Menschengruppe und ohne gerichtliche Prüfung der Einzelfälle, dürfte einer Prüfung auf Rechtsstaatlichkeit kaum standhalten.

Island statt Australien?

Das war aber noch nicht alles im Umgang mit den Naziverfolgten. Das britische Kriegskabinett diskutierte am 21. Juni 1940 den Vorschlag Churchills zur Bildung einer Fremdenlegion aus Internierten.[46] War Cabinet, Protokoll vom 21.6.1940, S. 544. Nationalarchiv, abgerufen am 25.8.2023. [1] War Cabinet, Protokoll vom 3.7.1940.. Es ging ihm aber nicht um eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“, wie man heute sagen würde. Die Argumente des Premiers lesen sich im Gegenteil als Abwertung der Flüchtlinge und eher wie die Variante einer Abschiebung. Das Regierungs-Protokoll hält diesen Vorschlag des Premiers so fest:„Viele enemy aliens hätten großen Hass auf das Naziregime und es wäre ungerecht, unsere Freunde wie Feinde zu behandeln. Die Ausrüstung für eine solche Einheit könnte nicht sofort vorhanden sein, könnte aber zu gegebener Zeit gefunden werden. Es wäre ebenfalls gut, diese Männer in der Zwischenzeit unter Kontrolle zu halten. Ihre Dienste könnten beispielsweise in Island genutzt werden.“

Im Zusammenhang mit der Abfahrt des ersten Internierten-Transports drei Tage später bleibt keinesfalls den Eindruck, dass es aus Sicht der britischen Regierung „ungerecht (wäre), unsere Freunde wie Feinde zu behandeln“. Vielmehr bleibt der Eindruck, dass Nazigegner und -opfer aus Deutschland von der Regierung Churchill nicht als Freunde sondern als missliebige Personen behandelt wurden. Ihrer wollte man sich schnell entledigen, ob als Internierte oder Legionäre und egal wohin. Am 3. Juli 1940, also dem Tag nach der Versenkung der Arandora Star, beschäftigte sich das Kriegskabinett mit dem „Fortschritt bei der Entfernung von Internieren und Gefangenen nach Übersee“. Im Protokoll[47] War Cabinet, Protokoll vom 3.7.1940, aao, , CAB-65-8-4, Blatt 28. heißt es u.a.: „Mit Blick auf die Versenkung der Arandora Star erinnerte das Kriegskabinett daran, dass die Ettrick an diesem Tag die Reise nach Quebec antritt mit 858 B Klasse-Deutschen, 1.348 deutschen Kriegsgefangenen und 405 jungen italienischen Singles an Bord. Das Schiff wird nicht eskortiert.“

Trotz der Versenkung der Arandora Star am vorherigen Tag beschließt das War Cabinet wird ausdrücklich beschlossen, die Ettrick mit „858 B Klasse Deutschen, 1.348 Kriegsgefangenen und 405 jungen Italienern“ an Bord „ohne Eskorte“ nach Kanada zu schicken.
Quelle: The National Archives, CAB-65-8-4, Blatt 28.

Zum Hintergrund der britischen Abschiebungspolitik und der Kooperation von Kanada und Australien ist noch folgende Information interessant: Am 16. Juli 1940 machte der australische Armeeminister G. A. Street seinem Kabinett folgende Rechnung auf: In Australien würden auf britischen Wunsch acht Lager für 6.297 Internierte „einschließlich Männern, Frauen und Kindern“ gebaut. Die Kosten wurden mit 330.000 Pfund veranschlagt. „Dieser Betrag wird von Großbritannien erstattet[48] Kriegskabinett Australien, Papier des Armeeministers vom 16.7.1940. Zit. nach Bartrop/Eisen „The Dunera Affair“, Melbourne 1990, S. 34/35. Übersetzung pd..“ Das betraf auch eines der Lager, in dem Anfang September 1940 eine Gruppe von 270 Personen aus Singapur untergebracht wurde. Auch ihnen hatte man in Australien ein Leben in Freiheit versprochen. Auch die 150.000 Pfund für ein Reservecamp und zwei Lager zur Unterbringung „eigener“ Internierter „werden an Fonds des Commonwealth abgerechnet“. Auch den Betrieb der Lager und die Kosten der Wachmannschaften finanzierte Großbritannien.

Zwischen „äußerster Hingabe“ und „grübelnder Beobachtung“

Bemerkenswert ist die – im Gegensatz zu anderen Quellen – sehr radikale und kritische Bewertung der Tätigkeit der Regierung und der dort verantwortlichen Personen von Leni und Peter Gillman. Hier ein Auszug:

„Da ist der Gemeinsame Nachrichtendienstausschuss, der in der entscheidenden Phase alle Fehler beging, für die Nachrichtendienste anfällig sind. Da ist das MI5, an dessen Spitze ein Sportfanatiker steht, der seine Zügellosigkeit nutzt, um rücksichtslos ineffizient zu handeln. Da ist die Home Defence (Security) Executive, die mit unumschränkter Macht über das Leben in Großbritannien ausgestattet ist und von einem Tory-Politiker geleitet wird, dessen Stellvertreter zwanzig Jahre lang in politische Intrigen verwickelt war.“
„Der Innenminister Sir John Anderson wurde als einer der Anstifter der Masseninternierungen verunglimpft; die Realität sieht jedoch anders aus. Der Außenminister Lord Halifax huscht kurz und unwirksam vorbei. Neville Chamberlain bewies seine unerschütterliche Loyalität gegenüber dem Mann, der ihn gerade abgesetzt hatte, indem er die Deportation mit äußerster Hingabe durchführte. Und schließlich Churchill selbst, der die Internierung grübelnd beobachtet, sich für ihre Aufrechterhaltung einsetzt und die Worte ausspricht, die zur Tragödie der Arandora Star führten.“

Leni und Peter Gillman[49] Gillman aao., S. 6..

Das Ende der Internierungen

Die Versenkung der Arandora Star und der Dunera-Skandal hatten in der britischen Öffentlichkeit und im Unterhaus eine Welle der Kritik und des Protestes ausgelöst. Churchill ließ seine Internierungspolitik zum „bedauerlichen und beklagenswerten Fehler[50] Vgl. Wikipedia über die Dunera, aao.“ erklären, wovon die Betroffenen freilich nicht viel hatten. Damit war das Thema für die Regierung so gut wie erledigt. Es wurden keine weiteren Schiffe mit Kriegsgefangenen und Ausländern – feindlich oder nicht – nach Übersee geschickt.

1941 folgten Verfahren vor einem Kriegsgericht gegen drei Angehörige der Wachmannschaften wegen der Vorgänge auf der Dunera. Das Gericht weigerte sich, Aussagen der Internierten zur Kenntnis zu nehmen. Die Urteile fielen relativ gering aus. Als Schadensersatz für bis maximal 2.500 ausgeraubten Dunera-Internierten stellte die Regierung 35.000 Pfund bereit.

Ab 1941 wickelte ein britischer Offizier die australischen dortigen Lager ab und sorgte dafür, dass mehr als 1.100 Mann nach Großbritannien zurückkehren konnten. Das war nicht eigennützig, denn sie hatten sich für die britischen Pioniertruppen zu melden oder sich auf anderem Gebiet nützlich für den Krieg zu betätigen. Die anderen Internierten wurden 1942 aufgefordert „freiwillig“ in einer australischen Arbeitseinheit dienen, um eine Einbürgerung zu erreichen oder ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erwerben. Viele Kriegsgefangene blieben bis 1947 in australischem Gewahrsam und wurden dann repatriiert.

In Großbritannien selbst wurden bis Ende 1940 rund 8.000 der 19.000 inhaftierten Ausländer freigelassen. Nach Regierungsangaben schlossen sich – ohne Berücksichtigung der Rückkehrer aus Australien – 1.273 Männer dem britischen Pioneer Corps an. Bis 1942 waren noch 5.000 Menschen – vor allem auf der Isle of Man – hinter britischem Stacheldraht[51] Vgl. Blog des The National Archives (UK) aao.. In diesen Zahlen verschwimmen die Zahlen zu Zivilinternierten und Kriegsgefangenen.


Hinweis: Aus dem Buch von Eric Koch resultierende Informationen wurden im Mai 2024 hinzugefügt.

Fußnoten

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  • [1]Vgl. u.a. diverse Biografien auf dunera.de.
  • [2]Vgl. Clare Ungerson „Four Thousand Lives. The Rescue of German Jewish Men to Britain, 1939“, The History Press Cheltenham 2019, Seite 16. Siehe auch die Website Kitchener Camp, betreut von Clare Weissenberg.
  • [3]Vgl. Wikipedia über Lord Kitchener, abgerufen am 30.8.2023.
  • [4]Laut Ungerson entsprach der in nur drei Monaten gesammelte Betrag 2019 immerhin 13,2 Mio. Pfund bzw. 15,44 Mio. € (Stand 2023).
  • [5]Vgl. Wikipedia über die Kindertransporte, abgerufen am 20.8.2023.
  • [6]Davies im Unterhaus am 22.8.194, abgerufen am 2.9.2023.
  • [7]Vgl. Blog des The National Archives (UK) vom 2.7.2015, abgerufen am 25.8.2023.
  • [8]„The Times“ vom 2.3.1940 zit. nach Rainer Radok, „Von Königsberg nach Melbourne“, Kap. 11, abgerufen am 20.7.2023.
  • [9]Robert M.W.Kempner „The Enemy Alien Problem“, 1942. Zit. nach Stibbe/Wünschmann „Internment practises during the First and Second World Wars. A comparison“. In Anderl et. al „Interment Refugee Camps“. Bielefeld, 2022. ISBN 978-3-8376-5927-6 (print). sowie digital, abgerufen am 20.8.2023.
  • [10]Louis Eleazar Gutmann-Polangen veröffentlicht in „Arandora Star Victims. A Supplement to the White Paper“, Seite 7f, o.J., abgerufen am 20.8.2023.
  • [11]Ebd. S.8.
  • [12]Zit. n. Eric Koch, „Deemed Suspect. A Wartime Blunder“, Toronto 1980, Seite 9/10.
  • [13]Peter und Leni Gilllman „‘Collar the Lot!‘ How Britain Interned And Expelled its Wartime Refugees“, London 1980, Seite 45.
  • [14]Gilllman aao. Seite 74ff.
  • [15]Zit. n. Gillman aao., Seite 79.
  • [16]Gilllman aao., Seite 74ff.
  • [17]Zit. n. Gillman aao., Seite 79.
  • [18]Zit. n. Gillman aao., Seite 80.
  • [19]Zit. n. Gillman aao., Seite 5.
  • [20]Zit. n. Eric Koch, Seite 12/13.
  • [21]Wikipedia über Winston Churchill, abgerufen am 25.8.2023.
  • [22]Churchill-Rede vom 4. Juni 1940. Zit. n. Richard M. Langworth „Churchill, Refugees, and Aliens“, abgerufen am 25.8.2023.
  • [23]Laut „Churchill, Refugees, and Aliens“, aao., ist weder das eine noch das andere Zitat im Wortlaut tatsächlich als von Churchill stammend verbürgt.
  • [24]England schaffte die Sklaverei 1833, die USA 1865 ab. In Preußen wurde Sklaverei 1857 verboten. Als Sklaverei im weiteren Sinn kann auch die von den Nazis eingeführte Zwangsarbeit von Häftlingen und Ausländern betrachtet werden. Vgl. Wikipedia, abgefragt am 2.9.2023.
  • [25]House of Lords, Protokoll vom 12.6.1940, abgerufen am 25.8.2023.
  • [26]Ebenda.
  • [27]Peake im Unterhaus am 29.5.1940, abgerufen am 2.9.2023.
  • [28]Vgl. Wikipedia zur Kriegserklärung vom 10.6.1940, abgerufen am 20.8.2023.
  • [29]Zit n. Gillman aao., Seite 215/216.
  • [30]Gillman aao. Seite 175, nennen einige Namen.
  • [31]Vgl. BBC Liverpool vom 24.9.2014, abgerufen am 20.8.2023.
  • [32]Wikipedia über die Internierungen in Großbritannien, abgerufen am 25.8.2023.
  • [33]Vgl. Ungerson aao.
  • [34]Sir Geoffrey Whiskard am 15.6.2023 an die Regierung Menzies, zit.n. Juden in Themar, abgerufen am 30.8.2023.
  • [35]Gillman aao., S. 210.
  • [36]Ebenda.
  • [37]Gillman aao., S. 211.
  • [38]Gillman aao., S. 211/2.
  • [39]Ebenda.
  • [40]Michael Hallerberg, „Darstellung und Wahrnehmung von deutschen Kriegsgefangenen in Kanada, 1940-46“, Dissertation, Osnabrück 2019, Seite 42f.
  • [41]Ebenda.
  • [42]Vgl. Gillman aao., S. 169.
  • [43]Gillman aao., S. 205f.
  • [44]Gillman aao., S. 206.
  • [45]Hallerberg aao., Seite 61.
  • [46]War Cabinet, Protokoll vom 21.6.1940, S. 544. Nationalarchiv, abgerufen am 25.8.2023. [1] War Cabinet, Protokoll vom 3.7.1940.
  • [47]War Cabinet, Protokoll vom 3.7.1940, aao, , CAB-65-8-4, Blatt 28.
  • [48]Kriegskabinett Australien, Papier des Armeeministers vom 16.7.1940. Zit. nach Bartrop/Eisen „The Dunera Affair“, Melbourne 1990, S. 34/35. Übersetzung pd.
  • [49]Gillman aao., S. 6.
  • [50]Vgl. Wikipedia über die Dunera, aao.
  • [51]Vgl. Blog des The National Archives (UK) aao.

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